mit!denken

Corona-Diskurs

Prof. Dr. Katrin Gierhake, LL.M.

Dezember 2020

Schon frühzeitig zu Beginn des Monats plädierten diverse Institutionen und Bundesländer für eine Verschärfung des Lockdowns aufgrund der weiterhin hohen Anzahl an Positiv-Getesteten. Die bisherigen Maßnahmen auf Bundesebene wurden bereits vielfach geändert und intensiviert, zuletzt am 1. Dezember. Dennoch ging Bayern einen Schritt weiter und verhängte kurz nach der bundesweiten Ausweitung der Kontaktbeschränkungen noch tiefergehende Regelungen. Diese umfassten unter anderem, dass das Verlassen des eigenen Wohnortes nur noch bei Vorliegen eines triftigen Grundes gestattet war und die Geltung einer Ausgangsperre von 21 Uhr bis 5 Uhr in Hotspot-Gebieten (Inzidenzwert über 200). Auch für die Feiertage wurden strengere Maßgaben ausgearbeitet. Wegen jener bayerischen Vorreiterrolle, aber vor allem aufgrund der gleichbleibend hohen Infektionszahlen, forderten nach und nach auch weitere Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen und Thüringen umfassendere Beschränkungen. In noch eindringlicherem Ton warnten auch wissenschaftliche Institute wie die Leopoldina vor zu nachlässigen Beschränkungen vor allem um und nach den Feiertagen. Nachdem pessimistische Voraussagen und Forderungen gleichermaßen die Woche über aus allen Sektoren (Wirtschaft, Gesundheit wie Politik) laut wurden und zum Teil manche Bundesländer schon selbstständig ihre Lockerungen für Weihnachten und Silvester zurücknahmen, befürwortete auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn das bayerische Voranschreiten und regte selbst zu weiteren Einschränkungen an.

Kurz vor dem Start des Wochenendes, als Bayern bereits den Katastrophenfall ausrief und diametral dazu Niedersachsen noch klarmachte, dass man strikt gegen eine Ausweitung des Lockdowns war, wurden sich am Sonntag der 50. Kalenderwoche dennoch nach langen Beratungen Bundeskanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten einig und beschlossen einen harten Lockdown ab dem 16. Dezember. Dies bedeutete die bundesweite Schließung des Einzelhandels, der Schulen wie Kitas mit dem Ziel, die Kontaktnachverfolgung wieder möglich zu machen und eine Inzidenz von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in sieben Tagen zu erreichen. Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde mit den Worten zitiert: „Deshalb sind wir jetzt zum Handeln gezwungen – und wir handeln.“ Entsprechend jener vermittelten Dringlichkeit beließ es der bayerische Ministerpräsident nicht bei den verhandelten Maßnahmen, sondern vertiefte die schon geltende bayerische bis dato für Hotspots geltende Ausgangssperre, indem sie auf gesamt Bayern ausgeweitet wurde. Eine Neuerung in dem Debakel um die Ausweitung der Maßnahmen war jedoch jene, dass sich nicht, wie so oft zuvor, die Länderchefs standhaft gegen die Beschlussvorlage des Bundes stellten, sondern im Gegenteil, sich nachträglich sogar für das vorangegangene milde Handeln entschuldigten. So gab Leipzigs Ministerpräsident Michael Kretschmer an, die Ministerpräsidenten „haben die Situation anders eingeschätzt und mit dem heutigen Wissen würden (sie) viele Dinge zeitiger und auch konsequenter machen“. Dem schloss sich Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow wenig später an und fügte hinzu, dass „die frühen Mahnungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu schärferen Maßnahmen in der Pandemie (…) richtig gewesen“ wären.

Zudem entschied der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in wichtiger Sache am 08.12.20. Er beschied dem nachgebesserten Infektionsschutzgesetz vorläufig Verfassungsgemäßheit, erklärte aber auch, dass Genaueres erst in einem Hauptsacheverfahren feststellbar sei. Mit Blick auf die Erforderlichkeit und Angemessenheit der 9.BayIfSMV stellte das Gericht klar, dass der Deutsche Bundestag mit seiner Feststellung, dass eine epidemische Lage von nationaler Tragweite vorliegt, im Rahmen seines Gestaltungsspielraumes geblieben sei. Für Behörden und Fachgerichte gäbe es genug Spielraum, um eine verhältnismäßige Einzelfallanwendung der Regelungen sicherzustellen.

 

Eine Ausnahme von der Schließung des Einzelhandels im Rahmen des sog. „harten Lockdowns“ galt u.a. für Lebensmittelgeschäfte und Drogerien. Mit einiger Verwunderung wurde daher von den Medien berichtet, dass die Handelskette Douglas, deren Sortiment in großen Teilen auch Parfüms, Kosmetika, Luxusartikel und Kleingeschenke umfasst, einige Filialen weiterhin öffnete. Douglas begründete dies damit, dass ein Teil der Filialen nicht auf Luxussortiment ausgerichtet sei, sondern klassisches Drogeriesortiment führe. Ebendiese Filialen würden daher unter die Ausnahme der Drogerien fallen und blieben daher geöffnet. Intern soll es die Vorgabe gegeben haben, Dekorationsartikel und Schmuck wegzuräumen und Drogerieartikel an den Eingang zu stellen. Dieses Vorgehen von Douglas stieß auf Kritik. So warf der hessische Landesverband der Gewerkschaft ver.di der Handelskette vor, die neuen Vorschriften zur Schließung zu unterlaufen. Auf diese deutliche Kritik hin reagierte Douglas und ließ verlauten, dass die Filialen nun doch gesamtheitlich geschlossen blieben. Die Firmenchefin Müller bat über den Kurznachrichtendienst Twitter um Entschuldigung, falls das Vorgehen befremdlich gewesen sei.

Eine weitere Nachricht, die in dieser Woche viel Aufmerksamkeit erzeugte, war die Entscheidung des bayerischen Verfassungsgerichtshofs, welcher über ein Eilverfahren zur Aufhebung der nächtlichen Ausgangssperre zu entscheiden hatte. Dieser Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz wurde im Ergebnis abgelehnt, weil die gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe in einer Folgenabwägung aufgrund der „wieder erheblich gestiegenen Gefahr für Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen bei gleichzeitig drohender Überforderung der personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesundheitssystems“ überwögen. Gleichzeitig stellte der BayVerfGH indes fest, dass es außer Frage steht, dass die neue Corona-Verordnung ganz erheblich in den Schutzbereich von Freiheitsgrundrechten eingreift und das Hauptsacheverfahren völlig offen ist.

 

Nachdem sich die Länder und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am 16.12 auf einen Start der Impfkampagne und, nach Debatte im Bundestag, auch auf eine Impfstrategie geeinigt hatten, sollen ab dem 27.12. die noch 2020 zur Verfügung stehenden Dosen von BioNTech und Pfizer zunächst Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen geimpft werden. Dies meldete die Gesundheitsministerkonferenz der Länder. Für Januar 2021 hoffe man über weitere drei Millionen Einheiten zu verfügen, welche im ersten Quartal des Jahres 2021 auf elf bis dreizehn Millionen Dosen kumulieren sollen, so die gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsfraktion Karin Maag. Da die Impfung zweimal innerhalb von drei Wochen verabreicht werden muss, könnten bis Anfang April ca. 6,5 Millionen Menschen geimpft werden.

So selbstverständlich sich das nun beschlossene Vorgehen in der gebotenen Kürze nun darstellt, war die vorangegangene Entscheidungsfindung bei weitem nicht.

Kaum hatte der Impfstoffhersteller BioNTech als erstes Unternehmen weltweit einen Durchbruch bei der Wirksamkeitsstudie seines Impfstoffes verkündet, präsentierten die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der deutsche Ethikrat und die ständige Impfkommission am Robert-Koch-Institut gemeinschaftlich Empfehlungen, wie den Bürgerinnen und Bürgern der Zugang zu einer möglichen Corona-Impfung unter medizinischen, epidemiologischen und rechtsethischen Gesichtspunkten ermöglicht werden sollte. „Es macht niemandem Freude über Priorisierung bei so einer wichtigen Impfung zu reden“, sagt Alena Buyx, Professorin für Medizinethik an der TU München und Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, im Gespräch mit ZEIT ONLINE. „Daher ist es wichtig, diesen Prozess bestmöglich und nach ethischen Prinzipien gerecht zu gestalten.“ Am Ende dieser Überlegung stand nun eine Strategie, welche drei Bevölkerungsgruppen, deren Zugehörigkeit sich anhand abschließender physischer Merkmale, aber auch der Berufsgruppe, bestimmen lässt, den zunächst eingeschränkten Zugang bevorzugt ermöglichen möchte. Zur ersten Gruppe zählen hiernach jene, die das höchste Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf einer Covid-19 Infektion tragen. Die zweite Gruppe bilden diejenigen, welche sich um Covid-19-Kranke kümmern und aufgrund dessen einem erhöhten Risiko für die eigene Gesundheit ausgesetzt sind, und Menschen, die das Virus von außen in eine Einrichtung, in welcher Angehörige der ersten Gruppe betreut werden, hineintragen könnten. Die dritte Gruppe umfasst hingegen Mitbürger, die wichtige gesellschaftliche Aufgaben wahrnehmen, wie etwa Angestellte der Gesundheitsämter, Mitglieder der Feuerwehren, Polizisten sowie Lehrer und Erzieher.

Diese Überlegungen dienten der ständigen Impfkommission des Robert-Koch-Instituts nun als Basis der von ihr anzustellenden Überlegungen zur Er- und Einrichtung deutschlandweiter Impfzentren und wurden schließlich ihrerseits in ein sechsgliedriges Tableau übertragen, welches die Gesamtbevölkerung in Gruppen sehr hoher bis zu niedriger Priorität differenziert. Dieses Tableau wurde nun wiederum zur Grundlage der rückwirkend ab dem 15.12 in Kraft getretenen Impfverordnung der Bundesregierung.

Kritiker der Inflexibilität dieser Vorgehensweise warfen insbesondere die Frage auf, weshalb jüngere Hochrisikopatienten auf eine Impfung warten müssten, bis die über 80-Jährigen geimpft sind. Treffend fasste dies Rebecca Maskos, ihres Zeichens selbst jüngere Hochrisikopatienten, folgendermaßen zusammen: „Es gibt Leute, die haben Assistenz und Pflegekräfte, aber leben zu Hause. Oder Leute wie ich, die ein völlig selbstständiges Leben führen, aber durch eine Corona-Infektion hoch gefährdet wären. Ich frage mich, wo ist denn die Flexibilität in dem Impfplan?“ Kritik an den Differenzierungen der STIKO kam auch von Seiten der Polizei, welche bisher in der vierten Gruppe berücksichtigt wurden. „Insbesondere die Polizeibeamtinnen und -beamten im Streifendienst kommen häufig mit vielen Menschen in näheren Kontakt und haben daher ein höheres Ansteckungsrisiko“, sagte der Landesvorsitzende der DPolG Bayern Jürgen Köhnlein. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble bemängelte, dass Bundestagsabgeordnete bisher in der Gruppe fünf geführt werden. Eine höhere Priorisierung von Abgeordneten begründete Schäuble damit, dass der Staat „handlungsfähig“ bleiben müsse. Auch fordert Schäuble, dass bestimmte Gruppen des medizinischen Personals von der zweiten in die erste Gruppe priorisiert werden.

Ein weiteres Problem stellt die rechtliche Umsetzung dieser unter medizinischen, epidemiologischen als auch ethischen Gesichtspunkten entwickelten Impfstrategie dar. Insbesondere die Frage nach einer verfassungskonformen Ermächtigungsgrundlage des bisherigen Regelungsmechanismus der durch die Bundesregierung erlassenen Verordnungen geriet mehr und mehr ins Kreuzfeuer von sowohl Rechtswissenschaftlern als auch Politikern

aus allen Lagern. Jens Spahn wollte das bisherige Vorgehen der Bundesregierung dabei auf die Verordnungsermächtigung nach § 20i Absatz 3 SGB V und die nach § 5 Absatz 2 Infektionsschutzgesetz gestützt sehen.

„Eine gesetzliche Grundlage für die Priorisierung der Impfstoffvergabe ist verfassungsrechtlich zwingend erforderlich“, so der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Fraktion, Stephan Thomae, gegenüber der F.A.S. „Die Frage, wer als erstes geimpft wird, ist von herausragender Bedeutung für die Ausübung der Grundrechte und entscheidet in letztlicher Konsequenz über Leben und Tod. Eine so wichtige ethische Entscheidung muss das Parlament selbst treffen, nicht die Bundesregierung durch Verordnung“, sagte Thomae. Die Berichterstatterin für Infektionsschutz der Grünen-Fraktion, Kordula Schulz-Asche, sagte, es sei „grundrechtsrelevant, wer zuerst einen solchen Impfstoff bekommt. Hierfür bedarf es einer klaren gesetzlichen Grundlage“. Dieser kollektiven Unzufriedenheit ob der als unzureichend erkannten gesetzlichen Grundlage für das Corona-Impfprogramm verlieh die FDP Fraktion schließlich am 17.12 durch die Vorlage eines Entwurfs eines möglichen Impfgesetzes im Bundestag Ausdruck. Sprecher der Koalitionsfraktionen wiesen die Vorhaltungen zurück und erklärten, die gesetzliche Grundlage sei durchaus gegeben, mit einer Verordnung könne zudem flexibel reagiert werden, falls sich die Bedingungen änderten. Der Gesetzentwurf wurde zur weiteren Beratung an den Gesundheitsausschuss überwiesen.

An diese Problematik anschließend rückte in der letzten Woche des Jahres 2020 spätestens in Folge der ersten Corona-Impfungen in Deutschland auch die Frage nach möglichen Privilegien von Geimpften in den Fokus.  Noch ist zwar nicht eindeutig geklärt, ob geimpfte Menschen das Virus weiter übertragen können. Sobald gesicherte Erkenntnisse vorliegen, könnte Geimpften der Zutritt zu Cafés, Kinos und anderen privat geführten Einrichtungen gestattet werden. Doch solche Sonderrechte für Geimpfte lehnen Politiker der Regierungskoalition bisher ab, um eine Zwei-Klassen-Gesellschaft zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften zu vermeiden. „Viele warten solidarisch, damit einige als erste geimpft werden können. (…) Und die Noch-Nicht-Geimpften erwarten umgekehrt, dass sich die Geimpften solidarisch gedulden“, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Demgegenüber warnten Rupert Scholz und Hans-Jürgen Papier vor weiteren hierdurch entstehenden Grundrechtsverletzungen. So bemerkte Papier gegenüber der Bild-Zeitung: „Sobald gesichert ist, dass von Geimpften keine Ansteckungsgefahr mehr ausgeht, gibt es verfassungsrechtlich keine Legitimation mehr, die Betroffenen in ihren Grundrechten weiter einzuschränken.“ Er habe auch „verfassungsrechtliche Bedenken, wenn der Staat Privaten vorschreibt, welche Privilegien sie gewähren dürfen – solange diese nicht zu Verschärfung des Infektionsgeschehens führen“, so Papier weiter. Dem pflichtete Scholz bei: „Wer jetzt sogar per Gesetz angebliche ‚Sonderrechte’ oder ‚Privilegien’ für Corona-Geimpfte verhindern will und sich dabei auf die Solidarität mit Noch-nicht-Geimpften beruft, verdreht die Tatsachen.(…) In Wahrheit geht es nicht um Solidarität, sondern um die Frage, ob Bürger, die nachweislich nicht mehr ansteckend sind, weiter bevormundet werden sollen.“ Auch Reinhard Merkel erklärte, es gehe „nicht um Sonderprivilegien, sondern um die Rückgabe der Grundrechte an solche Personen, denen gegenüber die Freiheitseinschränkungen nicht mehr zu legitimieren sind.“

Unabhängig von solchen verfassungsrechtlichen Erwägungen stand bisher außer Frage, dass privaten Unternehmen solche Überlegungen doch offenstanden, also ob sie in der Phase der Impfungen ausschließlich geimpfte Kunden bedienen möchten, dies stünde ihnen durch Ausübung ihres Hausrechts offen. Ein solches Hausrecht rückte bereits Ende November bzw. Anfang Dezember in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit, als durch die Ausübung des Hausrechts von Seiten der Unternehmen eine „Impflicht durchs Hintertürchen“ befürchtet wurde.
Die Regierungskoalition überlegt nun, dies zu ändern und eine Diskriminierung wegen des Impfstatus per Gesetz zu verbieten. Auch eine Ergänzung im Bürgerlichen Gesetzbuch brachte Fechner von der SPD ins Spiel: „Hier könnte man festlegen, dass zum Beispiel AGBs unzulässig sind, die den Transport von Personen an den Impfstatus knüpfen.“