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Corona-Diskurs

Prof. Dr. Katrin Gierhake, LL.M.

Abriss der vergangenen Monate: Phase 4 | Entwicklungen seit dem 20.4.

Verlängerungen und Lockerungen

Nach nahezu einem Monat Stillstand erreichte die Bundesrepublik nach und nach ein Erwachen (Beitrag von Tanja Banner), beginnend am 20.4.

Die auf Bundesebene geltenden Kontaktbeschränkungen blieben zunächst bis 3.5. bestehen: Es war damit weiterhin untersagt, sich mit mehr als einer anderen Person zu treffen. Erlaubt war nur, mit Mitbewohnern des eigenen Hausstandes unterwegs zu sein. Ebenso verlängerte sich das Mindestabstandsgebot, welches zunächst nur bis einschließlich 20.4. angesetzt war. Die bayerische Rechtslage wurde der bundesweiten Regelung allerdings angepasst. Dies bedeutete in Bayern vielmehr eine Lockerung und nicht wie auf Bundesebene eine Verlängerung der Maßnahme. Bis dato galt in Bayern, dass Kontakt zu haushaltsfremden Personen absolut untersagt war. Dies änderte sich Mitte April, indem nun mit einer Kontaktperson eines anderen Hausstandes Sport und Bewegung im Freien gestattet wurde. Mitte Mai wurden die Kontaktbeschränkungen erneut aktualisiert mit einer Geltung bis zum 5.6. Die Lockerung besagte, dass sich in diesem Zeitraum nun auch zwei verschiedene Haushalte treffen durften, nicht mehr nur eine Person eine weitere.

Die wohl größte Änderung war die Wiedereröffnung vieler Geschäfte. Bundesweit galt die Regelung, dass nicht-privilegierte Geschäfte mit einer Ladenfläche bis zu 800 Quadratmeter wieder öffnen dürfen. Hiervon wurden jedoch Buchhändler, Auto- und Fahrradhändler ausgenommen (privilegiert, wie auch Geschäfte des täglichen Bedarfs). Hier oblag es ebenfalls den Bundesländern, Details zu regeln. Somit konnte auch hier auf regionale Unterschiede reagiert werden. Wie schon angedeutet, zeigte sich darin zwar erneut die Flickenteppich-Problematik. Jedoch bot die föderale Organisation die Chance, dass stärker betroffene Länder wie Bayern oder auch andere Grenzregionen unabhängig vom Bund auf Grundlage ihrer Bedürfnisse handeln können (dies betrifft auch die jeweiligen Starttermine der Lockerungen). Damit sollte dem Bürger gleichzeitig größtmöglicher Schutz wie auch maximales Entgegenkommen geboten werden. Dies hatte zur Folge, dass in einigen Bundesländern der Gleichheitsgrundsatz hochgehalten (Beitrag von Astrid Theil) wurde. Diese gestatteten etwa auch großflächigeren Läden zu öffnen, allerdings mit der Prämisse ihre Verkaufsfläche an die Regelung anzupassen. Dennoch bleibt zu Beginn die Begrenzung auf 800 Quadratmeter stark umstritten (Beitrag von Walther Michl), insbesondere in Bayern. Dort wurde von einer Reduzierung der Verkaufsfläche abgesehen. Die Begründung, wieso eine Privilegierung anderer Geschäfte erfolgte, wurde darauf gestützt, dass beispielsweise im ländlichen Raum „Vollversorger-Läden“ diese Grenze weit überschreiten. Es wurde befürchtet, dass eine Begrenzung solcher Läden auf ein Flächen-Maximum von 800 Quadratmeter zu sog. Hamsterkäufen oder einem verstärkten Kundenandrang führen könnte. Auch weitere Gründe wie die erforderliche Anfahrt mit dem eigenen PKW statt der Nutzung des ÖPNVs wurden angeführt (Argument „Ortsrandlage“). Eine Reduzierung der Verkaufsfläche für die sog. nicht-privilegierten Geschäfte wurde in Bayern damit begründet, dass damit nicht die Vielfalt des Warensortiments erhalten bliebe. Der Verordnungsgeber befürchtete, dass versucht würde, auf demselben Raum dasselbe Sortiment darzustellen, was aus infektionshygienischen Gründen zu beanstanden wäre. Denn bezweckt wurde die „Reduzierung der Attraktivität und die Verringerung der Anziehungskraft großflächiger Einzelhandelsbetriebe„. Dies wurde jedoch vom BayVerwGH mit Bezugnahme zum Gleichheitsgrundsatz als verfassungswidrig festgestellt, was jedoch keine weiteren Folgen hat, denn von einer Außerkraftsetzung der Vorschrift wurde abgesehen. Als Kritik wird zudem angemerkt, dass die Rechtsprechung hier insbesondere die Details der Verordnung überprüfe. Dies stünde im Widerspruch dazu, dass dies bei den vorherigen härteren Grundrechtseingriffen unterblieben ist.

Stark diskutiert wurde insbesondere zu Beginn der Lockerungsphase eine Maskenpflicht. Nachdem zum Teil Geschäfte wieder öffnen sollten, schien es notwendig, dem Gesundheitsschutz Rechnung zu tragen, weswegen die Bundesregierung von einer dringenden Empfehlung zum Tragen eines Mund-Nase-Schutzes sprach. Nach und nach wendeten sich die Bundesländer jedoch von der reinen fakultativen Variante des Bundes ab und führten das obligatorische Tragen einer Schutzmaske ein. Hingegen variierte es jedoch wieder stark, in welchen Bereichen (Geschäfte, ÖPNV, u.ä.) diese Pflicht greife.

Zudem wurde in allen Bundesländern auch eine schrittweise Öffnung von Schulen und Universitäten angestrebt. Das Startdatum hierfür sowie die Umsetzung obliegen jedoch erneut der Souveränität des jeweiligen Bundeslandes.

Neuerungen im Bereich Gastronomie und Hotellerie gab es in eigener Verantwortung der Bundesländer erst ab Anfang Mai. Während erste Restaurants bereits am 9.5. unter Auflagen öffnen dürfen, geschah dies in Bayern verzögert am. 18.5. (Außenanlagen) bzw. 25.5. (Innenräume). Die bis zu diesem Zeitpunkt geltende Regelung, dass nur die Mitnahme von Gerichten und Getränken erlaubt war, war damit passé (Beitrag von Johanna Kempter).

Auch Besuchsregelungen für Personen mit Angehörigen in Seniorenheimen und Krankenhäusern wurden gelockert, allerdings unter strengen Auflagen.

Der Bund besteht aktuell auf eine Obergrenze von Neuinfektionen, ab der wieder auf härtere Beschränkungen zurückgegriffen werden müsste. Es soll sichergestellt werden, dass in Landkreisen oder kreisfreien Städten mit mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner erneut ein schlüssiges Beschränkungskonzept umgesetzt werde. Das Verbot von Versammlungen (Beitrag von Andreas Gutmann, Nils Kohlmeier) und Gottesdiensten wurde wegen der Gewichtigkeit der zugrundeliegenden Grundrechte durchgehend stark kritisiert (Gegenauffassung: Beitrag von Hans Michael Heinig). Daher sind diese in Bayern seit dem 4. 5. wieder unter Einhaltung von Schutzkonzepten gestattet (Beitrag von Maximilian Heim). Die Regelungen für Versammlungen sehen seitdem vor, dass man sich nur im Freien und maximal mit einer Teilnehmerzahl von 50 Personen für maximal eine Stunde versammeln darf, dabei sind die Abstandsregeln einzuhalten.

Aktuelles:

In aktueller Hinsicht hat sich in jüngster Zeit noch das Folgende ergeben: Eine mildere Handhabung der Kontakt- und Abstandsbeschränkungen wird seitens der Bundesregierung bisher abgelehnt. Die bisher bis zum 29.06. geltenden Vorschriften sollen so oder nahezu identisch weitgehend beibehalten werden, in Bayern ist dies für die strengen Kontaktbeschränkungen bis mindestens 14.6. anzunehmen. Bezuggenommen wird insbesondere auf das Abstandsgebot, sowie die Maskenpflicht in öffentlichen Bereichen. Bei privaten Zusammenkünften sei die Personenzahl auf 10 zu beschränken. Mit diesen Aussagen nimmt die Bundesregierung insbesondere Abstand von den Plänen Thüringens gegen Ende Mai. Nach Stand vom 2.6. wird die Aufhebung der Reisewarnung für Europa angepeilt. Eine Demo-Version der Corona-App, welche die Nachverfolgung von Infektionsketten erleichtern soll, ist bereits vorgestellt worden. Nachdem die Nutzung dieser auf freiwilliger Basis erfolgen soll, bedarf es wohl keiner gesetzlichen Regelung, weil dadurch nicht in Grundrechte eingriffen werde. Ab 8. 6. dürfen im Zuge der Öffnungskonzepte ebenso Freibäder und Fitnessstudios nachziehen.

Auch auf dem aktuellen Stand wird weiterhin die fehlende Chancengleichheit im Bereich der Bildung (Beitrag von Jonas Schreijäg, Birgit Wärnke) angeprangert, welche sich im Zuge der Maßnahmen deutschlandweit vertieft haben dürfte. So seien Schüler aus ärmeren Haushalten schon während der Krise benachteiligt gewesen, insbesondere wenn es an der notwendigen technischen Ausstattung für das Homeschooling fehlte. Nachdem weiterhin nicht alle Schüler zurück in den Präsenzunterricht gekehrt sind, bleibt das Problem aktuell und betrifft insbesondere bildungsferne oder finanziell weniger gut ausgestatteten Familien (Beitrag von Paul Munzinger). Vergleichbar ist es um Asylunterkünfte (Beitrag von Berit Uhlmann) bestellt, welche kaum in der Lage sind, die geltenden Vorschriften bezüglich Abstand und Hygiene einzuhalten.

Die aktuelle Pandemie-Phase in Deutschland ist auch von Konflikten innerhalb der Gesellschaft geprägt. So verliert 1/5 der Bevölkerung aktuell das Vertrauen in Politik und Medien und fühlt sich als Teil der Öffentlichkeit bezüglich der Gefährlichkeit des Virus getäuscht.

Als Erfolg für die Grundrechte ist jedoch die Rechtsprechung des Berliner Verfassungsgerichtshofs zu verzeichnen. Das setzte – mit dem Hinweis auf Verstöße gegen das Bestimmtheitsgebot – den dort geltenden Bußgeldkatalog zum Teil außer Kraft. Die Mangelhaftigkeit würde dazu führen, dass rechtstreue Bürger sich dazu veranlasst sähen, sich in ihren Grundrechten noch weiter zu beschränken. Die zeitweilig mit Besorgnis (Beitrag von Martin Heuser) zu betrachtende Funktionsfähigkeit der Justiz (Beitrag von Massimo Bognanni, Lena Kampf) scheint damit wiederhergestellt.