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Corona-Diskurs

Prof. Dr. Katrin Gierhake, LL.M.

Die Rolle der (neuen) Medien im Kontext des Rechtsbewusstseins – Teil 1

Straßenprotest erweist sich seit langem als ganz zentraler Bestandteil politischer Kultur im Deutschland der Nachkriegszeit. Von den Friedensbewegungen der 50er bzw. 80er Jahre bis hin zu auch aktuellen Jugendbewegungen wie „Fridays for Future“ kann die Bundesrepublik auf eine äußerst erfolgreiche Geschichte politischer Meinungsäußerung zurückblicken, weshalb es wenig verwundert, dass auch in der aktuellen Corona-Krise von dieser Form des Protests Gebrauch gemacht wurde und solche Versammlungen zeitweise auch deren Berichterstattung dominierten. In nahezu allen deutschen Städten fanden sich – besonders gehäuft Mitte Mai – teils mehrere tausend Demonstranten zusammen, um ihrem Unmut über den staatlichen Umgang mit der Corona Pandemie Ausdruck zu verleihen. Rund einen Monat später, welcher pandemiespezifisch im Zeichen eines politischen Kurses sukzessiver Lockerungen der Auflagen stand, wirken solche „Anti-Corona/Hygiene Demos“, auch unter dem Eindruck der nun präsenten „Black lives matter“ Proteste, nur noch wie eine leise Erinnerung. Augenscheinlich zurecht stellt man sich in diesem Kontext die rhetorische, marginalisierende Frage „War’s das schon?“. Doch fordern einige beunruhigende Entwicklungen im Zusammenhang dieser Ereignisse eine nachträglich genauere Betrachtung gleichsam ein.

Wie schon bei vielen Demonstrationen zuvor fand sich auch bei den „Corona Demos“ eine sehr heterogene Menschenmenge, samt unterschiedlicher Motive den Protesten beizuwohnen, zusammen. Waren es Personen, die von den Auflagen höchstpersönlich massiv betroffen wurden, wie etwa Selbstständige oder Kleinunternehmer, Personen, welche die potentielle Gefahr des Virus für übertrieben hielten, aber eben auch beispielsweise extremistische Publizisten,  Esoteriker und Verschwörungsgläubige, welche aufgrund einer angeblich nur ihnen bekannten Faktenlage das aktuelle Weltgeschehen anzweifelten. Auch fanden all diese Motive zunächst, wie bei Demonstrationen üblich, in einer einhelligen Forderung an die Politik Ausdruck: Ihre Grundrechte müssten auch in der aktuellen Ausnahmesituation gewährleistet werden. Auf den zweiten Blick werden jedoch einige Diskrepanzen innerhalb dieser Kanalisierung deutlich. Während die ersten beiden Gruppen, teilweise auch berechtigter Weise, die (ihrer Ansicht nach) Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen anprangerten,  formulierten insbesondere die zuletzt genannten Gruppen teilweise ganz banal, der Grundrechtsschutz würde überhaupt nicht gewährleistet und es läge nun an ihnen, sich für die Durchsetzung der Grundrechte stark zu machen. Für Besorgnis dürfte hierbei ausschließlich der zweite Ansatz sorgen, als sich hierin wiederum einige schon rein protestbezogene systematische Ungereimtheiten finden lassen.

So soll für ein Grundgesetz eingestanden werden, dessen Systematik keine Schranken vorsieht und insofern gar nicht existiert. Zwar sieht man sich in der Rolle von „Rechtshütern“, doch versteckt sich dahinter eigentlich viel mehr eine grundsätzlich andere Vorstellung vom Gesetz, welche dann in einem zweiten Schritt in Konflikt mit dem Gesetz samt dessen Systematik tritt. Wollte man nun diese grundsätzlichen, unüberbrückbar erscheinenden Differenzen nun in einen rechtsstaatlich notwendigen Diskurs übersetzen, müssten dessen Eingangsfragen ganz grundlegend wie folgt formuliert werden: Was ist Recht? Was soll Recht sein? Was kann Recht leisten?

Gerade diese Fragen umspannen aber die Dimension dessen, was als Rechtsbewusstsein zu bezeichnen ist.1Vgl. Würtenberger, NJW 1986, S. 2282.

Entpuppen sich die eben skizzierten Entwicklungen folglich eigentlich als Probleme in der Dimension des Rechtsbewusstseins? Möglicherweise könnte eine rein theoretische Untersuchung dieses Feldes, samt etwaiger Entwicklungen innerhalb desselbigen Aufschluss über die aktuellen Entwicklungen bzw. Gefahren liefern, mögliche Probleme dechiffrieren und rechtspolitische Lösungsvorschläge bieten.

 

Über das Rechtsbewusstsein und dessen rechtsstaatlich relevantes, dynamisches Potential

Einer jeden Epoche wohnt das Spezifikum inne, dass sich in ihr ein besonderes Verhältnis von Recht und Gesetz entfaltet,2Vgl. ebd., S. 2281. welches sich jeweils inhärent in dem Rechtsbewusstsein ihrer Akteure niederschlägt. Ab Mitte der 1960er Jahre hatte sich ein gravierender Wandel in der Auffassung des Verhältnisses des Bürgers zum Staat vollzogen.3Vgl. ebd., S. 2283. Ausgehend von einem in der Nachkriegszeit noch präsenten Grundvertrauen der Bürger in die möglichen, von staatlicher Seite angebotenen Lösungen sozialer und ökonomischer Probleme, verschob sich der Fokus mehr und mehr auf eine mögliche aktive politische Orientierung des Einzelnen. So waren Anfang der 1980er Jahre bereits 25-30% der Gesamtbevölkerung der Ansicht, dass es gegen staatliche Grundsatzentscheidungen eine Veto-Position des Einzelnen geben sollte, welche gegebenenfalls durch gezielten Rechtsbruch durchgesetzt werden können müsse.4Vgl. Enquête-Kommission des deutschen Bundestages, in: Wissmann-Hauck (Hrsg.), Jugendprotest im demokratischen Staat, 1983, S. 45 ff. Diesen Entwicklungen war es geschuldet, dass man das Schlagwort eines „Rechtsbewusstseins“ auch juristisch hinreichend bestimmen wollte. Eine mögliche Motivation dieser Untersuchungen musste/muss sicher nicht weniger sein, als daraus resultierende Gefährdungen des Rechtsfriedens bzw. des Rechtsstaats auch aus rechtssoziologischer Sicht einordnen zu können.5Vgl. Rhinow, in Zeitschrift für schweizerisches Recht, NF 103. Bd. II 1984, S. 255ff. Relativierend stellte Theodor Geiger hierzu klar: „Doch lässt sich Rechtsbewusstsein nicht direkt beobachten. Es ist ein theoretisches Konstrukt. Aber es ist in der empirischen Sozialforschung ganz normal, dass im Hin und Her zwischen Theorie und Beobachtung ein Konzept entsteht, das theoretisch brauchbar ist und zugleich die Beobachtung anleitet.“6Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1964 (1949), S. 382. Die drei grundlegenden, bereits eingeführten Fragen, was Recht ist, Recht sein, als auch Recht leisten soll setzen sich notwendigerweise in drei eng miteinander verknüpften Feldern des Rechtsbewusstseins in der Lebensrealität ihrer Träger fort, des politisch-rechtlichen Bewusstseins, des sozial-ethischen Bewusstseins und des Rechtsgefühls. Während sich das politisch-rechtliche Bewusstsein speziell mit Vorstellungen über die Richtigkeit tragender Grundsätze des politischen Prozesses, welche zwingendermaßen in einem Basis- bzw. Verfassungskonsens münden müssen, beschäftigt, erfasst das sozial-ethische Bewusstsein herrschende Ideen über das sittliche Fundament der Rechtsordnung.7Vgl. Würtenberger, NJW 1986, S. 2281. Vielfach relevanter in der Beurteilung aktueller Tendenzen, gleichsam aufgrund der Beständigkeit in den ersten beiden Feldern relativ unbedeutend für die allgemeine Beständigkeit des Rechtsbewusstseins, zeigt sich das dritte Feld, das des Rechtsgefühls. Dieses ermöglicht intuitive Entscheidungen bei der Konfrontation mit Rechtsfragen.8Vgl. Obermayer, JZ 1986, S. 1ff. Insofern gestaltet sich das Rechtsbewusstsein als eine Art größtmögliche Reduktion der eigenen individuellen Meinung im Hinblick auf Rechtsfragen. Erscheint das Rechtsbewusstsein dem Einzelnen solange unproblematisch als rein subjektive Macht, bis es in der Folge als eine objektive Macht, in Form des bestehenden Rechtssystems, von außen an ihn herantritt und „einen Willensact (sic!) hervorruft, der im Betroffenen ohne solche Einwirkung nicht erfolgen konnte. Als rein subjective (sic!) Macht, als Rechtsbewusstsein, tritt das Recht im freiwilligen rechtmässigen (sic!) Handeln zu Tage, als objective (sic!) Macht dagegen im rechtmässigen Handeln des Widerstrebenden.“9Hold-Ferneck, Die Rechtswidrigkeit, S. 12. Und erlebt der Betroffene eben diese aufoktroyierte Handlung nun gar als unzumutbares Unrecht, erstarkt diese Wahrnehmung zu einer subjektiven Pflicht zum Widerstand gegenüber sich selbst und entfachte in eben solch einer Konstellation ein ungemeines Protestpotential,10Vgl. ebd., S. 141. welches sich in der Folge gesellschaftlich bei entsprechender Überlastung der Exekutive als Gefährdung der Rechtssicherheit manifestieren kann. Und speist sich eben diese Gefahr nicht aus der Existenz einer Vielzahl verschiedenen Meinungen. Ganz im Gegenteil ist das Vorhandensein einer Meinungspluralität einem gleichgerichteten Rechtsbewusstsein vielmehr zuträglich, weil hierdurch der öffentliche Diskurs gefördert wird, innerhalb dessen anders gelagerte Meinungen von staatlicher Seite als Forderungen wahrgenommen werden können. Es „müssten“ im schlimmsten Fall eben keine gezielten Rechtsbrüche in Kauf genommen werden um dieser Forderung Ausdruck zu verleihen.

Doch exakt eine solche Entwicklung zeichnet sich aktuell ab. Aktivisten organisieren sich bereits in eigenen Widerstandsgruppen wie etwa der selbsternannten Partei „Widerstand 2020“ mit – laut eigenen Angaben – bereits mehr als 100.000 Mitgliedern. Geradezu symptomatisch propagiert man in Berufung auf Art. 20 Abs. 4 GG den legalen Umsturz der Regierung. Wo und wie sollte nun ein diesen Tendenzen entgegenwirkendes rechtspolitisches Handeln ansetzen? Diese sind in Veränderungen im Bereich des Rechtsbewusstseins festzumachen. Die Gründe für mögliche Veränderungen in diesen Bereichen sind sicherlich nicht abschließend und insbesondere aufgrund der wiederum zwischen ihnen bestehenden Wechselwirkung nicht einfach enumerativ darzulegen, doch lassen sich empirisch gewisse De- bzw. Stabilisatoren benennen. Insbesondere ist hier, wie auch das Bundesverfassungsgericht bereits feststellte,11Vgl. BVerfGE 12, 205 (260); 35, 202 (222); 57, 295 (320); 59, 231 (257); 73, 118 (152); 74, 297 (323). den Medien, wie auch deren Möglichkeit in Berichten bzw. Sendungen zu einer Vielzahl von Rechtsfragen Stellung zu nehmen, eine besondere Rolle einzuräumen. Und gerade die Mediennutzung der Bevölkerung hat sich im letzten Jahrzehnt radikal verändert. Bereits 2014 manifestierte das Internet seine Rolle als bevorzugtes Recherchemedium. Insofern ist in diesem Zusammenhang die Rolle der Massenmedien genauer zu untersuchen.

 

Veränderungen in der Dynamik des Rechtsbewusstseins aufgrund der aktualisierten Natur der Massenmedien

Noch in den 80er Jahren konnten Massenmedien fast vollumfänglich Leitideen der Rechtsfortbildung und Rechtspolitik herausarbeiteten. Durch diese tradierten Formate erfuhr der Einzelne die soziale Realität, in der Folge speziell welche rechtlichen Regelungen kritikwürdig erschienen und weiter noch, welche Teile der Rechtsordnung insofern reformiert werden müssten.12Vgl. Würtenberger, NJW 1986, S. 2286. Aufgrund ihres Status als exklusives (aber dennoch pluralistisches) Medium und des, dem menschlichen Bedürfnis nach Orientierungssicherheit Rechnung tragenden Mitläufereffekts, waren diese Forderungen zumeist eines gesellschaftlichen Konsenses sicher.13Vgl. ebd., S. 2286. Presse und Rundfunk waren trotz etwaiger Unwägbarkeiten als maßgebliche Stabilisatoren eines gemeinen Rechtsbewusstseins zu betrachten und teilweise durchaus in der Lage, möglichen Brüchen desselbigen vorzubeugen.

 

Der Wegfall der Massenmedien als Stabilisator

Eine derart gestaltende Wirkung kann den klassischen Medien seit dem rasanten Aufstieg bzw. der Etablierung des Internets als primärem Kommunikationsmedium nicht mehr zukommen. Die Leistungsfähigkeit von tradierten Massenmedien erschöpft sich in jener Form der Kommunikation, „bei der Aussagen öffentlich durch technische Verbreitungsmittel indirekt und einseitig an ein disperses Publikum vermittelt werden14Maletzke, Psychologie der Massenkommunikation, S. 32. Das Internet hingegen vermag alle vier Achsen menschlicher Kommunikation, sowohl aktiv-kognitiv, aktiv-sozial, kognitiv-passiv als auch sozial-passiv zu bedienen. Zwar wurde einerseits die etwaige Asymmetrie eines lateralen Kommunikationskonstrukts aufgebrochen, andererseits garantierte bisher eben jene Struktur die in diesem Zusammenhang stabilisierende Wirkung der Medien.15Vgl. eben zu dieser stabilisierenden Wirkung: Beater, Medienrecht 2007, §1 Rn. 14. Die notwendigerweise dem Prozess der Meinungsbildung vorgeschalteten vier Fragen „Where am I? Where do I want to go? Am I on the right path? Am I there yet?”16Vgl. Bachiochi et al., Usability studies and designing navigational aids for the World Wide Web, S. 1489ff., deren gewissenhafte Beantwortung bisher auch durch bspw. etwaige journalistische Sorgfaltspflichten oder den Pressekodex gewährleistet wurde, waren von nun an nicht mehr primär den großen Zeitungsredaktionen vorbehalten und wurden stattdessen zunächst jedem Einzelnen überantwortet. Die Medien hatten ihren Charakter als Gatekeeper verloren. Diese bisherige auch zweckmäßige Struktur, welche die Bildung einer öffentlichen Meinung und somit eines gemeinen Rechtsbewusstseins gewährleistete, war gleichsam weggebrochen und es mussten sich neue Kulturtechniken herausbilden.

 

Inwiefern solche digitalen Kulturtechniken entwickelt werden konnten, welche rechtlichen Anforderungen abhängig davon aufgrund der sich hieraus ergebenden Realität zu formulieren sind und welche rechtpolitischen Ansätze insofern in einem zweiten Schritt herausgearbeitet werden könnten, soll in Teil 2 beleuchtet werden.

 

 

References
1 Vgl. Würtenberger, NJW 1986, S. 2282.
2 Vgl. ebd., S. 2281.
3 Vgl. ebd., S. 2283.
4 Vgl. Enquête-Kommission des deutschen Bundestages, in: Wissmann-Hauck (Hrsg.), Jugendprotest im demokratischen Staat, 1983, S. 45 ff.
5 Vgl. Rhinow, in Zeitschrift für schweizerisches Recht, NF 103. Bd. II 1984, S. 255ff.
6 Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1964 (1949), S. 382.
7 Vgl. Würtenberger, NJW 1986, S. 2281.
8 Vgl. Obermayer, JZ 1986, S. 1ff.
9 Hold-Ferneck, Die Rechtswidrigkeit, S. 12.
10 Vgl. ebd., S. 141.
11 Vgl. BVerfGE 12, 205 (260); 35, 202 (222); 57, 295 (320); 59, 231 (257); 73, 118 (152); 74, 297 (323).
12 Vgl. Würtenberger, NJW 1986, S. 2286.
13 Vgl. ebd., S. 2286.
14 Maletzke, Psychologie der Massenkommunikation, S. 32
15 Vgl. eben zu dieser stabilisierenden Wirkung: Beater, Medienrecht 2007, §1 Rn. 14.
16 Vgl. Bachiochi et al., Usability studies and designing navigational aids for the World Wide Web, S. 1489ff.