Der Grund für den nachfolgenden Beitrag liegt in der Frage, ob die Corona-Pandemie und die sie begleitende Politik eine Ausnahme-Situation darstellen. Anlaß gab die Lektüre eines Vortrages von Karl Löwith: Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur. Seine theologische Prämisse und deren säkulare Konsequenzen, Heidelberg 1968.
Mir scheinen Corona und die mit ihr begründeten politischen Maßnahmen nicht Ausnahmen von, sondern Konsequenzen einer langen Entwicklung, die deshalb auch angesprochen werden soll.
I. Die neuzeitliche Weichenstellung
Mit dem Ausgang des europäischen Mittelalters beginnt die Abkehr von einem seit der Antike herrschenden Denken bezüglich des Verhältnisses des Menschen zu sich und seiner Umwelt.
Nicht nur, aber doch besonders die aristotelische Philosophie in ihrer Verbindung mit der katholischen Theologie orientierte den Lebensvollzug in seinen verschiedenen Ausprägungen z. B. von Theologie und Politik. Für dieses Denken ist der Mensch ein Geschöpf Gottes, als sein Ebenbild, die Natur ist ebenso eine Schöpfung Gottes, die der Erschaffung des Menschen nach dem Bericht der Genesis zudem vorausgeht. Dem Menschen steht so die Natur als ein grundsätzlich Unverfügbares gegenüber, und es ist Gott als der Schöpfer beider, der die grundlegende Gutheit des Verhältnisses vermittelt.
Mit dem Beginn der Neuzeit in Europa (bzw. dies markiert den Beginn der Neuzeit) vollzieht sich ein fundamentaler Wandel dieser Auffassung. Der Mensch war zwar nach den Schöpfungserzählungen der Bibel von Gott zum Herrscher über die Natur und ihre Lebewesen eingesetzt, aber diese Herrschaft war gegründet auf dem Bewußtsein der Schöpferkraft Gottes, der die Natur für gut befunden hatte und die deshalb auch der Sorge des Menschen für die Bewahrung dieses Gutes überantwortet war. Da der Mensch als Verstandeswesen die Macht entwickelte, die Naturgegebenheiten für seine Zwecke zu verändern, war hier schon immer die Spannung zwischen der Bewahrung des bestehenden Guten und der Zerstörung zugunsten des vermeintlich Besseren angelegt. Indem mit der Entwicklung der modernen Auffassung von Naturwissenschaft die technischen Möglichkeiten, der bis dahin weitgehend unverfügbaren Gewalt der Natur Grenzen zu setzen, zunahmen, entwickelte sich ein Bewußtsein von der möglichen Allmacht des Menschen.
Technische Erfindungen waren die Mittel, diese Macht umzusetzen. Die Natur, als Schöpfung Gottes letztlich für den Menschen als zu seinem Gebrauch, nicht Verbrauch gedacht, wurde immer mehr zum bloßen Objekt menschlicher Willkür und ihrer Zwecksetzungen. Das moderne Denken, wie es von Galilei, Descartes oder von Locke prominent vorgetragen wurde, trug weiter zur Entfaltung einer zunehmenden Distanz der Menschen in ihrem wirklichen Lebensvollzug von der Totalität ihrer Verhältnisse bei. Die Natur wurde entseelt, ihre eigenständige, lebendige Subjektivität wurde geleugnet, damit einhergehend wurde Gott in ein transzendentes Jenseits seiner Unerkennbarkeit verbannt, die menschliche Gemeinschaft selber, die in z.B. ständischen Institutionen ihr Gemeinsames gegen die bloß egoistische Willkür sicherte, wurde zugunsten der bloß individuell verstandenen Freiheit zersetzt. Dieser Jahrhunderte währende Prozeß, in dem wir nach wie vor befangen sind, erzeugte ein Bewußtsein, das letztlich technisch orientiert ist. Der Mensch kann die Geheimnisse der Natur durch seine Wissenschaft und seine Praxis entschlüsseln. Die Praxis wird aber nicht mehr im Sinne des Aristoteles als Handeln auf die Idee des Guten hin verstanden, sondern als Technik, die nur einen besonderen Zweck erfüllen soll, wobei der ideale Orientierungsrahmen gestrichen wird. Die Wissenschaft wird damit zugleich auf das reduziert, was die menschliche Praxis durch ihr technisches Vermögen selbst hervorbringen kann. Der Mensch könne auch nur das wirklich erkennen, was er selber herstellen kann. Vernunftideen, das sittlich Gute, sind danach ein bloßes Gedankending.
Diese Einschränkung des Wissens auf einen technisch verstandenen Naturalismus wird die vorherrschende Auffassung, die die Wissenschaft leitet. Die technischen Erfolge dieser an einer so eingeschränkten Praxis orientierten Wissenschaft scheinen diese zu rechtfertigen. Wer würde diese Erfolge z. B. in der Medizin durch alle möglichen Erfindungen von Apparaten und Verfahren leugnen wollen? Es sind aber gerade diese Erfolge, die den Weg in die immer weitere Technisierung aller menschlichen Lebensvollzüge weiter befeuern. Der Fortschritt im Banne der Technik nimmt an Tempo zu.
Indem die nicht-technisierbaren Ideen wie Gott, Seele und Freiheit als nicht beweisbare metaphysische Gedanken (oder als Hirngespinste unwissenschaftlichen Grübelns) abgelegt werden, entfällt die Grundlage des Gottvertrauens bei Gefahr und wird durch den Glauben an die Technik ersetzt. Der Mensch steht nun im Banne des von ihm ausgehenden Machbaren. Was sich zur Zeit als noch nicht machbar erweist, könnte sich später durch das Fortschreiten der Wissenschaft doch als machbar erweisen. Die Probleme, die durch den technischen Zugriff auf alle Lebensbereiche entstehen, können durch mehr und bessere Technik gelöst werden. Der Glaube daran beherrscht den Zeitgeist.
Wenn man den wissenschaftlichen Fortschritt, der sich in der Technik manifestiert, durchaus anerkennt, kann man doch auch die Frage nach den Verlusten dieses Fortschritts stellen, ohne dabei gleich als Technikfeind gelten zu müssen. Der Mensch (homo faber oder in seiner Zuspitzung homo oeconomicus) hat schon immer Techniken angewendet, um seine Zwecke zu erreichen. (Technik sei hier als die systematische Erkenntnis der materiellen Mittel und der Verfahren zur Erlangung eines materiellen Zwecks verstanden.) Aber mit dem Wegfall der metaphysischen Ideen entfällt auch die Einbettung der Technik in einen größeren Sinnzusammenhang, der die Totalität des Menschen in seiner Natur einbezieht. Die technischen Möglichkeiten, die als Versprechungen eines beschwerdefreien, wenn nicht glückseligen Lebens gemacht werden, bestimmen immer mehr als eigentliche Motivation das Handeln der Menschen. Die Technik wird zum Subjekt, der Mensch zum Objekt, zum bloßen Handlanger ihrer Entfaltung.
Man kann diese Entwicklung begrüßen oder beklagen; für die Philosophie besteht die Aufgabe darin einzusehen, aus welchen Quellen sich diese Entwicklung gespeist hat und weiter speist.
Wenn Kant von dem einzigen angeborenen Recht auf Freiheit beim Menschen spricht (Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S, 237), so ist hier ausgesprochen, daß der Mensch in der Spannung, man kann auch sagen in dem Widerspruch, zwischen seiner individuellen und seiner gemeinschaftlichen Freiheit steht. Die Vermittlung, die die Freiheit selber ist, kann nur darin bestehen, die beiden Momente in ihrer Geltung zu bewahren. Wenn die individuelle Freiheit dem sog. Allgemeinwohl geopfert wird, ist die Freiheit ebenso gefährdet, wie wenn das Allgemeinwohl sich in der individuellen Willkürfreiheit auflöst.
Das Recht mit seinen Institutionen ist die Vermittlung von individueller und allgemeiner Freiheit, indem es durch die überindividuellen Institutionen die individuelle Freiheit erst real werden läßt. Aber diese Institutionen sind wiederum in den Gesamtkontext von Freiheit eingebunden. Ihnen ist die Freiheit des Menschen, die Kant mit dem Begriff der Würde verbindet, unverfügbar. Das Recht auf Freiheit, mit dem der Mensch geboren ist und das auf keinen weiteren Bedingungen beruht, ist so die Grundlage eines menschlichen Lebens.
II. Corona-Politik
Wir hatten angesprochen, daß die Idee der Freiheit, wie sie sich im Recht darstellt, durch den Begriff des Machbaren, der in der Technik seine Realisierung findet, mehr und mehr ersetzt wurde. Freiheit soll für den Zeitgeist auf das eingeschränkt sein, was machbar ist. Die Notwendigkeit ist das, was die Machbarkeit erfordert. Die Einschränkung der Totalität, die Mehrdimensionalität menschlichen Lebens auf die eine Dimension einer äußerlichen Zweck-Mittel-Relation, die eine letztlich mechanistisch aufgefaßte Technik zum Inhalt hat, zeigt sich als schon lange wirksame „Praxis“ und als theoretische Reflexion des Umgangs der Menschen mit der Natur und sich selbst.
Wir können nicht sagen, warum die „Corona-Pandemie“ diese Ausmaße angenommen hat, die die Regierungen fast der ganzen Welt zu Maßnahmen getrieben haben, wie wir sie beobachten können. Aber wir können sagen, was die Grundlage und der Zweck (sei es bewußt oder auch weniger bewußt) dieser Maßnahmen ist.
Wenn es das Kennzeichen der modernen Entwicklung ist, die Natur als bloßes Objekt menschlicher Zwecksetzungen zu betrachten, wenn sich zugleich die menschlichen Zwecksetzungen in der Entwicklung der Technik immer mehr in dieser als „automatischem Subjekt“ realisieren, dann kann man verstehen, daß das gesellschaftliche Bewußtsein als Gesamt auch der individuellen Auffassungen die Anwendung der Technik auf die Natur und den Menschen, der inzwischen ja auch nur noch ein Objekt der Technik ist, als einziges Mittel zur Lösung der Probleme und hier der Bewältigung der Virus-Krise ansieht und gutheißt.
Das anti-metaphysisch aufgeklärte Bewußtsein kann sich nicht mehr zurücknehmen und etwas geschehen lassen, weil der metaphysischen Grundannahme des Guten keine Realität mehr zugestanden werden kann. Der Mensch als Maß aller Dinge orientiert auch sein Urteil über die gegebene Natur am Fortschritt des technisch Machbaren. Für diese Ansprüche ist die Natur nicht gut, sondern muß verbessert werden. Diese sich anti-metaphysisch gebende Metaphysik ist unmenschlich, weil auch der Mensch letztlich in seinen wirklichen Lebensvollzügen auf eine berechenbare Größe als Naturobjekt reduziert wird.
Die Virus-Ausbreitung wird ebenso wie alle Probleme, die eine Begleiterscheinung der Technisierung aller Lebensbereiche sind, zu einem technischen Problem. Als Lösung wird die vollständige digitale Überwachung der Individuen angeboten. Jede Bewegung müsse registriert werden, weil ja jede Bewegung des Menschen ihn mit anderen in Kontakt bringen könne, was wiederum verheerende Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Auch die Erkrankung selber sei zwar „noch“ nicht mit Hilfe der Technik heilbar, aber die Technik helfe durch die Bereitung von Impfstoffen, die Ausbreitung zu reduzieren. Da nun aber das Virus sich selber immer wieder verändert, scheint die Technik auch weiterhin das einzige Mittel, um den Schutz zu gewährleisten. Kurz gesagt: Mit dem Virus ist eine weitere Rechtfertigung für eine schrankenlose Entfaltung von Technik als Herrschaftsmittel über die Natur und den Menschen gegeben. Die neuzeitliche Bewußtseinsform, die schon immer gegen ihre Fesseln in der Gestalt von Freiheitsrechten und sonstigen metaphysischen Bedenklichkeiten angekämpft hat, wird nun dieser Fesseln entledigt. Für die Technik ist nicht mehr die Freiheit und Würde des Menschen die Schranke ihrer Machbarkeitsideologie, sondern nun werden andere Zwecke, die sie nicht mehr beschränken, sondern befeuern, in den Blick gerückt. Sicherheit und Gesundheit werden nun als eigentliche Zwecke des Menschen propagiert.
Während aber die Idee der Freiheit das Streben nach Sicherheit und Gesundheit in ihren Kontext einschließt, so enthalten die Vorstellungen von Sicherheit und Gesundheit eben nicht die Idee der Freiheit in sich. Denn äußere Sicherheit garantiert ein Überwachungsstaat viel effektiver als ein liberaler (freiheitlicher) Rechtsstaat, und auch Gesundheit, zumindest in einer technischen Hinsicht, kann ohne die Freiheit (oder Uneinsichtigkeit des Patienten dem wissenden Arzt oder „Experten“ gegenüber) auch besser realisiert werden.
Die unverfügbare Leiblichkeit des Menschen als Ausdruck eines Lebensvollzuges, der auf Freiheit gründet, ist, wenn das technisch Machbare das Denken alleine bestimmt, eine beliebige Bestimmung des Menschen. Die höheren Zwecke, zu denen die Freiheit nicht mehr zählt, erlauben nun die Unverletzlichkeit des Leibes unter Voraussetzungen zu stellen, die sich nicht mehr auf Freiheit berufen müssen. Das Impfen, als das technische Mittel gepriesen, ist kein Angebot an die Menschen, um in Freiheit darüber für sich zu entscheiden, sondern die technisch durch Statistik begründete Notwendigkeit, um zu einer Immunisierung der Gesellschaft zu gelangen. Individuelle Zustimmung ist nicht mehr nötig, weil die Logik der Technik keine andere Handlungsalternative mehr zuläßt. Die Leibfeindlichkeit der Digitalisierung geht so mit der weiteren Isolierung der Menschen einher, ja befördert diese sogar.
Wir hatten zu Beginn unserer Betrachtung die Auflösung der traditionellen Gemeinschaften im ausgehenden Mittelalter angesprochen. Die Technik treibt den Individualisierungsprozeß als Isolierung weiter voran. An die Technik verfallen kann ich heute fast mein ganzes Leben vor dem Computer verbringen. Ich bestelle meine Lebensmittel, die vor der Tür abgestellt werden. Ich bezahle per On-Line-Banking. Selbst die kleinen Kinder werden weiter in diese Richtung über den sog. Distanzunterricht trainiert.
Der Weg in die Unmenschlichkeit nimmt immer groteskere Züge an. Der Mensch als ein auf Geselligkeit angelegtes Wesen, das seine Leiblichkeit in der Berührung durch andere erfährt, wird reduziert auf ein Wesen, das sich nur durch die Technik mit anderen seiner Art in Verbindung setzen kann. Gegen die unausbleibliche Vereinsamung wird neue Technik erfunden, in Japan z.B. werden Roboter als Kuscheltiere in Altersheimen eingesetzt, mit Erfolg, wie berichtet wird.
III. Ausblick
Für viele Akteure in Politik, Verwaltung und Wirtschaft mag die Pandemie ein willkommener Anlaß sein, ihre Forderungen nach mehr Digitalisierung, Effektivierung und Kontrolle, nach Beseitigung von Hemmnissen (die vielfach auf Freiheitsrechten beruhen) für die Entwicklung und Anwendung neuer Techniken und Verfahren, durchzudrücken. Aber dies erklärt nicht, warum eine doch beachtliche Mehrheit (wenn man den Umfragen und den Erfahrungen im eigenen Lebensumfeld glauben darf) den Verheißungen der Maßnahmen gegen die Pandemie Glauben schenkt. Wenn es aber die neuzeitliche Grundhaltung ist, Natur und menschliche Gesellschaft als Objekt einer technisch orientierten Wissenschaft zu sehen, den Menschen, aber auch die Natur, in ihrer unverfügbaren subjektiven Einzigartigkeit aus den Blick geraten zu lassen, dann erscheint die jetzige Situation nicht mehr als Ausnahme, sondern als eine neue Stufe dieser Entwicklung, die den Fortschritt im Bewußtsein von Freiheit in einen Fortschritt der Technik ohne Bewußtsein von Freiheit umschlagen läßt. Der Mensch verleugnet seine vernünftige Dimension, die das Leben erst lebens- und liebenswert macht, er wird immer mehr Getriebener seiner eigenen Machwerke, deren erstes das Machwerk Mensch als homo faber ist. Der Spaßgesellschaft, der das Nachdenken über ein wirklich gelingendes Leben im Sinne des Aristoteles zuwider geworden ist, endet in der freud- und lieblosen Existenz der hinter Masken verborgenen einzelnen.
Die metaphysischen Ideen von Gott, Seele und Freiheit, die ihren wahren Gehalt nur in ihrem Verbund kundtun, sind mit der Vernunft selber gegeben. Und es ist gerade Kant, der die Bedingungen der Möglichkeit technizistischen Denkens aufgedeckt hat, der dieses Denken dem Sittengesetz als unhintergehbarer Bewußtseinsform dieser Ideen unterordnet. Die Kritik der reinen Vernunft zeigt ja sehr deutlich, daß die neuzeitliche Orientierung der Naturwissenschaft auf der Abstraktion vom wirklichen Leben, dem Leben von Natur und Mensch, beruht. Das wirkliche Leben des Menschen als Freiheitswesen gründet in der Wirklichkeit des Sittengesetzes als Bewußtsein von Vernunft überhaupt. Es ist die Orientierung alles Handelns und Machens an der Sittlichkeit, auf der die Freiheit beruht. Ein Leben, das sich an einer Technik ohne sittliche Einschränkung ausrichtet, ist unmenschlich.
Auch wenn der Lärm, das Getöse der Propaganda für technische Lösungen, die aus allen Medien erschallen, erdrückend scheinen, so läßt sich die Vernunft selber nicht unterdrücken, wenn diese dem Menschen wesentlich ist, und nicht wie ein Arm oder Bein durch äußerliche Mittel amputiert werden kann. Der Gedanke der Freiheit wird sich immer gegen die selbstzerstörerischen Machtphantasien der bloß verstandesmäßigen Zweckorientierungen erheben. Können wir dies vielleicht auch bald erleben?