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Corona-Diskurs

Prof. Dr. Katrin Gierhake, LL.M.

Welchen Wert hat die Freiheit?

Von Grundrechten, Glück und Corona

Der Nutzen der Corona-Maßnahmen wird im Allgemeinen in der Rettung von Menschenleben, teilweise etwas enger in der Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems gesehen. Demgegenüber werden die Kosten in der Regel in monetären Einheiten beziffert. Die Schätzungen der Wirtschaftsinstitute gehen derzeit von einer Größenordnung von etwa 250 Milliarden Euro an Wohlstandsverlust in Deutschland aus.1Diese Zahl entspricht der Schätzung des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln; Grömling M., Hüther M.: BIP schrumpft um eine viertel Billion Euro. IW-Nachricht vom 14. März 2021. In diesem Diskussionsbeitrag soll versucht werden, Nutzen und Kosten gegenüberzustellen – aus einer singulären sozioökonomischen Perspektive, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder letzte Weisheit.

Lassen sich Menschenleben und Wohlstand gegeneinander aufrechnen? Sicherlich nicht, ist man vermutlich reflexartig geneigt zu sagen. Allerdings können es sich Entscheidungsträger in vielen Bereichen nicht immer so einfach machen. Sollte man lieber in Schulen und Kindergärten investieren oder in die Bekämpfung einer seltenen Krankheit? Ist die Aufwendung einer hohen Summe für den Hochwasserschutz gerechtfertigt? Wie hoch ist die Zahlungsbereitschaft für eine neue Sicherheitstechnologie im Straßenverkehr? Zur Orientierungshilfe bei derartigen schwierigen Fragen gibt es in der Gesundheitsökonomie verschiedene monetäre Kennzahlen, zu deren wichtigsten der VSLY gehört, der „value of a statistical life year“, also der in Geldeinheiten ausgedrückte Wert eines Lebensjahres. Der VSLY ist nicht zu verwechseln mit der ökonomischen Wertschöpfung im Sinne eines Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts, sondern stellt den Betrag dar, den eine Gesellschaft im Mittel für die Sicherung eines Lebensjahres aufzuwenden bereit ist.2Würde der Staat beispielsweise maximal 100 Mio. Euro ausgeben wollen, um alle Autobahnauffahrten mit einer Technologie zur Verhinderung von Falschfahrten auszustatten, wodurch jährlich 10 Unfalltote verhindert würden, die im Mittel noch 40 Jahre gelebt hätten, wäre der VLSY 100 Mio. / (10 * 40) = 250.000 [Euro]. Mit den genannten Fragestellungen im Hinterkopf mag es auf den zweiten Blick nicht mehr in allen Situationen zynisch erscheinen, Lebensjahre in Geld zu bewerten.

Natürlich gibt es keinen exakten, allgemein gültigen Wert für den VSLY. Eine Metastudie kommt für Kontinentaleuropa zu einem Median von 160.000 Euro.3Schlander M., Schaefer R., Schwarz O.: Empirical studies on the economic value of a statistical life year (VSLY) in Europe: What do they tell us? Value in Health 20 (2017), PA666. Die durchschnittliche verbleibende Lebenserwartung der an Covid-19 Verstorbenen liegt unter Berücksichtigung von Vorerkrankungen bei etwas über zehn Jahren.4Hanlon P, Chadwick F, Shah A et al.: COVID-19 – exploring the implications of long-term condition type and extent of multimorbidity on years of life lost: a modelling study [version 3; 01 Mar 2021]. Wellcome Open Res 2021, 5:75. Mit diesen Größen entspricht der volkswirtschaftliche Schaden einem Äquivalent von etwa 150.000 zu rettenden Leben.

Gut ein Jahr nach Auftreten der ersten Fälle sind in Deutschland ca. 80.000 Menschen an oder mit Covid-19 verstorben. Haben die politischen Maßnahmen weitere Todesfälle in zweifacher Höhe vermieden? Eine schwierig zu beantwortende Frage. Aber sie sollte gestellt werden, insbesondere auch den politischen Entscheidungsträgern. Eine monofokale Politik, die alle anderen Lebensbereiche weitgehend ignoriert, kann nicht zielführend sein. Es ist durchaus möglich, dass der medizinische Nutzen, das Ausmaß an vermiedenem Leid, die Zahl der geretteten Menschenleben größer gewesen wäre, hätte man 250 Milliarden Euro in die Krebsforschung investiert.

Bei diesen Überlegungen ist zu beachten, dass es auch ohne Einschränkungen der Gewerbefreiheit zu einem wirtschaftlichen Einbruch gekommen wäre. Vielleicht wäre der ökonomische Schaden bei einem unkontrollierten Verlauf der Pandemie noch größer gewesen (auch wenn wenig darauf hindeutet). Gleichzeitig gehen aber auch die politischen Gegenmaßnahmen mit gesundheitlichem Schaden einher – beispielsweise häuslicher Gewalt, depressiven Erkrankungen und sicherlich auch Todesfällen infolge verschobener Operationen oder Vorsorgeuntersuchungen. Eine gesundheitsökonomische Beurteilung hinterlässt Zweifel an der Angemessenheit der Maßnahmen.

Allerdings gibt es jenseits von Medizin und Ökonomie einen weiteren Aspekt, der nur selten in der Diskussion genannt wird: Nicht nur die Gewerbefreiheit, sondern auch so ziemlich alle anderen Grundrechte sind derzeit aufgehoben oder zumindest eingeschränkt. Ist das etwa gar nichts „wert“? Provokant gefragt, sollte eine Gesellschaft für mehr Wohlstand einerseits oder längeres Leben andererseits ihre Freiheitsrechte über Bord werfen?

Nun, vielleicht nicht gleich gänzlich, aber zumindest zeitlich, räumlich und sachlich begrenzt könnte der Verlust von Grundrechten zu rechtfertigen sein. Die Rechtswissenschaft kennt in diesem Zusammenhang den Begriff der Verhältnismäßigkeit. Fragt man den Ökonomen, so ist er geneigt, – juristisch sicherlich zweifelhaft – eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung mit seinem Instrumentenkasten durchzuführen, indem er wiederum eine monetäre Bewertung versucht. Man mag aus rechtsphilosophischen oder ethischen Gründen berechtigte Vorbehalte gegen eine utilitaristische Betrachtung haben. Als Denkanstoß könnte sie gleichwohl hilfreich sein.

Kann man den Verlust an Freiheitsrechten mit ökonomischen Ansätzen bemessen? Diese Frage trifft auf bisher weitgehend unerschlossenes Terrain; allerdings gibt es gewisse Analogien. Eine Anpassung des Konzepts des VSLY bezieht auch die Lebensqualität mit ein und kommt zum Konstrukt des „quality-adjusted life year“ (QALY). So wird beispielsweise eine Krebstherapie abgelehnt, wenn sie zwar die Lebenszeit verlängern kann, durch starke Nebenwirkungen aber die verbliebene Lebensqualität massiv beeinträchtigt.

Eine unmittelbare Übertragung von QALYs auf die Lebensqualität mit eingeschränkten Freiheitsrechten ist schwierig. In der Gesundheitsökonomie wird häufig eine Funktion von Gesundheitsstatus und Konsumnutzen herangezogen.5Z. B. Felder S.: Lebenserwartung, medizinischer Fortschritt und Gesundheitsausgaben: Die Empirie. Plenumsvortrag auf der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik, Bonn 28. September 2005. Felder modelliert das Produkt aus Konsumnutzen und Gesundheitsstatus, welcher dem Kehrwert der instantanen Sterbewahrscheinlichkeit entspricht. Im Jahr 2020 sind die Konsumausgaben in Deutschland um 5,0 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen.6Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 122 vom 15. März 2021. Hierin spiegeln sich zumindest partiell durchaus die Grundrechtseinschränkungen wider – viele derzeit verbotene Dinge wie Reisen, Einkaufsbummel, Theater-, Restaurant- oder Kneipenbesuche gehen mit entgangenen Ausgabe- bzw. Konsummöglichkeiten einher.

Andererseits umfassen die Grundrechtseinschränkungen auch Lebensbereiche, die nicht unmittelbar mit Konsum verknüpft sind, aber dennoch die Lebensqualität beeinträchtigen. Der empfundene Wert von Gemeinschaft und Geselligkeit bei Skat- oder Kaffeerunden dürfte höher liegen als der monetär bemessene Konsumnutzen von Bier bzw. Kuchen.

Einen über den Nutzen des Konsums hinausgehenden umfassenderen Ansatz verfolgt die Glücksforschung, ein Zweig der Sozioökonomie, dessen Gegenstand die Messung und Analyse des „Glücks“ bzw. der Lebenszufriedenheit der Bevölkerung und dessen Determinanten ist. Damit ist keineswegs (allein) hedonistischer Spaß gemeint, sondern eine umfassende Betrachtung aller Lebensbereiche wie physisches und psychisches Wohlbefinden, Lebensstandard, Vitalität etc.  Im Königreich Bhutan ist die Steigerung des „Bruttonationalglücks“ sogar verfassungsmäßiges Staatsziel. Für Deutschland werden entsprechende wissenschaftliche Studien seit einiger Zeit in einem jährlichen „Glücksatlas“ zusammengefasst. Im Jahr 2020 ist das durchschnittlich empfundene Wohlergehen der Bundesbürger nach einem langjährigen Aufwärtstrend deutlich eingebrochen – gemessen über einen „Glücksindex“ um 5,6 Prozent.7Grimm R., Raffelhüschen B.: Deutsche Post Glücksatlas. Penguin Verlag, München 2020. Dieser Effekt ist eindeutig der Pandemie zuzuschreiben; mehr noch legen die Ergebnisse nahe, dass es primär die Auswirkungen des Lockdowns und weniger direkt gesundheitliche Aspekte und Ängste sind, die diesen Einbruch verursacht haben.8Der Rückgang in der Gesundheitszufriedenheit betrug lediglich ein Drittel des Rückgangs der allgemeinen Lebenszufriedenheit.

Der Wert liegt erstaunlich nahe am Rückgang des Konsumnutzens. So kommt man mit beiden Methoden zu einer ähnlichen Bewertung des Verlusts an Lebensqualität durch die Pandemie im Allgemeinen und die Beschränkungen der Freiheitsrechte im Besonderen. Geht man – sicherlich gewagt – von diesem Proxy für den empfundenen Verlust durch die Grundrechtseinschränkungen aus und bezieht ihn auf den VSLY, so erhält man ein monetäres Äquivalent von etwa 9.000 Euro je Bundesbürger. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung von 83,2 Mio. wären es etwa 750 Milliarden Euro, also nochmal ein Vielfaches des rein ökonomischen Schadens.

Aber man muss diesen vielleicht etwas waghalsigen Schritt zu monetären Größen gar nicht gehen, um einen anderen Vergleich zu ziehen: Unterstellt man sehr optimistisch, dass die 80.000 an oder mit Covid-19 Verstorbenen im Mittel weitere zehn Jahre glücklich gelebt hätten, wären hierdurch 800.000 Glücksjahre verlorengegangen. Der Rückgang der Lebensqualität – hauptsächlich verursacht durch die politischen Maßnahmen – hat im Mittel jeden Bundesbürger 5,6 % eines glücklichen Jahres gekostet, insgesamt damit 4,7 Mio. Glücksjahre.

Natürlich ist eine solche Rechnung mit erheblichen Unsicherheitsfaktoren behaftet. Die Glücksmessung in Deutschland wurde nicht kontinuierlich über das ganze Jahr durchgeführt.9Der Wert von 5,6 % ist ein Mittelwert aus vier Befragungen zwischen März und Juni 2020. Der Tiefstwert von 8,8 % unter dem Niveau von 2019 wurde im Mai 2020 erreicht – als die Infektionszahlen bereits deutlich zurückgingen, der Lockdown aber nochmals verlängert wurde. Der Wert im Juni entsprach ziemlich genau dem genannten Mittel. In der zweiten Jahreshälfte fanden keine weiteren Befragungen statt. Unter der Vermutung, dass sich der Wert im Sommer mit den bestehenden Reisemöglichkeiten weiter besserte, im Herbst und Winter 2020/21 mit dem erneuten Lockdown dann aber wieder zurückging, erscheint die Annahme des Wertes von 5,6 % als Jahresmittel nicht gänzlich unplausibel. Neben den Grundrechtseinschränkungen und deren Konsequenzen mögen weitere Faktoren für die Glücksreduktion verantwortlich gewesen sein. Hinzu kämen Einbußen der Angehörigen durch Trauer sowie zumindest temporär der schwer, aber nicht tödlich erkrankten Patienten.

Ungeachtet solcher Unsicherheitsfaktoren und ungeachtet der Frage nach der hypothetischen Situation bei einem geringeren Grad der Präventionsmaßnahmen ist der Unterschied in der Größenordnung frappierend: Die Freiheitseinschränkungen haben schätzungsweise einen fünf- bis zehnmal so hohen Rückgang im „Bruttonationalglück“ verursacht wie die Krankheit selbst.

Es wäre nun allerdings voreilig, aus diesen Überlegungen unmittelbare Konsequenzen abzuleiten bzw. zu fordern. Die sozioökonomisch-utilitaristische Betrachtung kann eine umfassende ethische, philosophische und rechtswissenschaftliche Diskussion nicht ersetzen. So vernachlässigt ein solcher Ansatz beispielsweise, dass Freiheitsrechte gerade auch Minderheiten zustehen – es wäre ethisch kaum vertretbar, einer Minderheit Rechte zu nehmen, selbst wenn dadurch das Bruttonationalglück gemehrt werden könnte.10Konkret wäre es kaum vertretbar, die verminderte Lebensqualität Vorerkrankter als Argument für einen verminderten Anspruch auf staatliche Zuwendung zu sehen. Vgl. z. B. Sunstein C. R.: Lives, life-years, and willingness to pay. John M. Olin Program in Law and Economics Working Paper No. 191, 2003. Insofern versteht sich der Beitrag als Mosaikstein innerhalb einer gesellschaftlichen Diskussion, als bewusst zuspitzendes und vereinfachendes Schlaglicht. Um mit Popper zu sprechen: „Ich möchte andere zum Widerspruch herausfordern; ich möchte, wenn möglich, andere dazu anregen, die Dinge in einem neuen Licht zu sehen.“11Popper, K. R.: Zum Thema Freiheit. Referat, Europäisches Forum Alpbach, 25. August 1958. Leider kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass eine kritische, vorurteilsfreie Diskussion in der Gesellschaft weder geführt wird noch überhaupt erwünscht ist. Hier liegt das eigentliche Problem.

 

 

 

Der Autor bedankt sich bei Katrin Gierhake und etlichen „kritischen Geistern“ für wertvolle Kommentare.

 

References
1 Diese Zahl entspricht der Schätzung des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln; Grömling M., Hüther M.: BIP schrumpft um eine viertel Billion Euro. IW-Nachricht vom 14. März 2021.
2 Würde der Staat beispielsweise maximal 100 Mio. Euro ausgeben wollen, um alle Autobahnauffahrten mit einer Technologie zur Verhinderung von Falschfahrten auszustatten, wodurch jährlich 10 Unfalltote verhindert würden, die im Mittel noch 40 Jahre gelebt hätten, wäre der VLSY 100 Mio. / (10 * 40) = 250.000 [Euro].
3 Schlander M., Schaefer R., Schwarz O.: Empirical studies on the economic value of a statistical life year (VSLY) in Europe: What do they tell us? Value in Health 20 (2017), PA666.
4 Hanlon P, Chadwick F, Shah A et al.: COVID-19 – exploring the implications of long-term condition type and extent of multimorbidity on years of life lost: a modelling study [version 3; 01 Mar 2021]. Wellcome Open Res 2021, 5:75.
5 Z. B. Felder S.: Lebenserwartung, medizinischer Fortschritt und Gesundheitsausgaben: Die Empirie. Plenumsvortrag auf der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik, Bonn 28. September 2005. Felder modelliert das Produkt aus Konsumnutzen und Gesundheitsstatus, welcher dem Kehrwert der instantanen Sterbewahrscheinlichkeit entspricht.
6 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 122 vom 15. März 2021.
7 Grimm R., Raffelhüschen B.: Deutsche Post Glücksatlas. Penguin Verlag, München 2020.
8 Der Rückgang in der Gesundheitszufriedenheit betrug lediglich ein Drittel des Rückgangs der allgemeinen Lebenszufriedenheit.
9 Der Wert von 5,6 % ist ein Mittelwert aus vier Befragungen zwischen März und Juni 2020. Der Tiefstwert von 8,8 % unter dem Niveau von 2019 wurde im Mai 2020 erreicht – als die Infektionszahlen bereits deutlich zurückgingen, der Lockdown aber nochmals verlängert wurde. Der Wert im Juni entsprach ziemlich genau dem genannten Mittel. In der zweiten Jahreshälfte fanden keine weiteren Befragungen statt. Unter der Vermutung, dass sich der Wert im Sommer mit den bestehenden Reisemöglichkeiten weiter besserte, im Herbst und Winter 2020/21 mit dem erneuten Lockdown dann aber wieder zurückging, erscheint die Annahme des Wertes von 5,6 % als Jahresmittel nicht gänzlich unplausibel.
10 Konkret wäre es kaum vertretbar, die verminderte Lebensqualität Vorerkrankter als Argument für einen verminderten Anspruch auf staatliche Zuwendung zu sehen. Vgl. z. B. Sunstein C. R.: Lives, life-years, and willingness to pay. John M. Olin Program in Law and Economics Working Paper No. 191, 2003.
11 Popper, K. R.: Zum Thema Freiheit. Referat, Europäisches Forum Alpbach, 25. August 1958.