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Corona-Diskurs

Prof. Dr. Katrin Gierhake, LL.M.

Vorübergehende Krisen machen dauerhaftes Recht

Vorübergehende Krisen machen dauerhaftes Recht: Das Beispiel des Sozialen Wohnraummietrechts

»Mietern und Pächtern kann für den Zeitraum vom 1. April bis 30. Juni 2020 nicht wegen ausgefallener Mietzahlungen aufgrund der COVID-19-Pandemie gekündigt werden. Die Miete bleibt für diesen Zeitraum weiterhin fällig; es können auch Verzugszinsen entstehen. Mietschulden aus dem Zeitraum vom 1. April bis 30. Juni 2020 müssen bis zum 30. Juni 2022 beglichen werden, sonst kann den Mietern wieder gekündigt werden. Mieter müssen im Streitfall glaubhaft machen, daß die Nichtleistung der Miete auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie beruht.«1https://www.bmjv.de/DE/Themen/FokusThemen/Corona/Miete/Corona_Miete_node.html Die COVID-19-Pandemie ist nicht die erste schwere Krise, die zu Veränderungen im Bereich des Mietrechts führte. Folgender Beitrag möchte einige Facetten des Wohnungsmietnotrechts aus der Zeit des Ersten Weltkriegs darlegen und an diesem Beispiel zeigen, wie sich Notrecht zu dauerhaft gültigem Recht entwickeln kann.

I. Das Mietrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1900

Das Mietrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs war – wie das gesamte Gesetzbuch – von bürgerlich-liberalen Grundsätzen gleicher Freiheit aller Bürger geprägt. Die Regelungen des mietvertraglichen Kündigungsrechts stehen ebenso in der Tradition des gemeinen Rechts und der partikularen Rechte wie der klassisch-liberalen Vorstellung von der Freiheit des Eigentums. Besondere Regelungen zu den drei zentralen Regelungsproblemen der Wohnungsmiete, nämlich des Zustandekommens eines Mietvertrages, der Miethöhe und der Beendigung des Mietvertrages, kannte das Bürgerliche Gesetzbuch nicht, obschon die »Wohnungsfrage« bereits seit den 1860er Jahren als Teil der Sozialen Frage angesehen worden war.2Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Band 3, Frankfurt am Main 1995, S.147. Die Kritik aus der Feder des erzkonservativen preußischen Juristen Otto v. Gierke an diesen (und weiteren) Regelungsvorschlägen ist bekannt: Es sei Staatsaufgabe, den Schwachen gegen den Starken und das Wohl der Gesamtheit gegen die Selbstsucht der Einzelnen zu schützen. »Schroff ausgedrückt: in […] unser Privatrecht muß ein Tropfen sozialistischen Öles durchsickern!«3Otto von Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Frankfurt am Main 1948, S. 9 f. Speziell zum Mietrecht schrieb Gierke: »Von Einzelheiten abgesehen, ist die in den heutigen Großstädten brennend gewordene Frage, ob es nicht gesetzlicher Einschränkungen der Vertragsfreiheit bei der Wohnungsmiete zum Schutz gegen Miettyrannei und Mietwucher bedarf, nicht einmal in Erwägung gezogen«4Otto von Gierke, Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, Leipzig 1889, S. 241 f. worden. Die Vertragspraxis erhellt am besten, dass kein ausgeglichener städtischer Wohnungsmarkt bestand, sondern eine strukturelle Ungleichgewichtslage existierte. Hans-Ulrich Wehler5Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Band 3, Frankfurt am Main 1995, S. 786. spricht von »modernen Nomaden«, die ständig in Bewegung waren, weil sich die Hoffnung, eine erträgliche Wohnung auf Dauer behalten zu können, für die meisten Arbeiter als aussichtslos erwiesen habe. Dabei ist zu beachten, dass die Arbeiterwohnungen mit heutigen Vorstellungen von Wohnen ohnedies wenig gemein hatten.

II. Die mieterschutzrechtliche Kriegsgesetzgebung

Die vielfach bis heute fortgeltende Mieterschutzgesetzgebung hat ihren Ursprung in den vor allem in der zweiten Hälfte des »Großen Krieges« ergangenen mieterschützenden Verordnungen. Sie basieren auf § 3 des Gesetzes über die Ermächtigung des Bundesrats zu wirtschaftlichen Maßnahmen vom 4. August 19146RGBl. 1914, S. 327., also einem zu Beginn des Krieges beschlossenen Ermächtigungsgesetz, das die Position des gewählten Parlaments (Reichstag) schwächte, und markieren rückblickend den Ausgangspunkt der Auflösung des Einheitsmietrechts des Bürgerlichen Gesetzbuchs und die Geburtsstunde eines eigenständigen Wohnraummietrechts, das sich rasch zu einem ganz eigenständigen Rechtsgebiet entwickelt hat.

Ein erster Eingriff in bestehende Verträge war bereits durch die Bekanntmachung über die gerichtliche Bewilligung von Zahlungsfristen7Bekanntmachung über die gerichtliche Bewilligung von Zahlungsfristen vom 7. August 1914, RGBl. 1914, S. 359, geändert durch die Verordnung über die gerichtliche Bewilligung von Zahlungsfristen vom 21. Mai 1915, RGBl. 1915, S. 290. vom 7. August 1914 erfolgt, nach der Gerichte »eine mit der Verkündung des Urteils beginnende Zahlungsfrist von längstens drei Monaten« festlegen konnten, § 1 Abs. 1 der Bekanntmachung. Davon konnten Mieter freilich nicht profitieren, denn selbst wenn sie auf diese Weise Zahlungsaufschub erlangten: Eine Kündigung wegen Zahlungsverzugs war weiterhin möglich. Dem half die Bekanntmachung betreffend Änderung der Verordnungen über die gerichtliche Bewilligung von Zahlungsfristen und über die Folgen der nicht rechtzeitigen Zahlung einer Geldforderung8Bekanntmachung, betreffend Änderung der Verordnungen über die gerichtliche Bewilligung von Zahlungsfristen und über die Folgen der nicht rechtzeitigen Zahlung einer Geldforderung vom 8. Juni 1916, RGBl. 1916, S. 451. vom 8. Juni 1916 ab, die in Art. II bestimmte, dass das Gericht anordnen kann, dass auch die Folgen der Zahlungsverzögerung »erst unter einer Bedingung, insbesondere erst nach dem fruchtlosen Ablauf einer auf höchstens drei Monate zu bemessenden Frist eintreten«. Auf diese Weise ermöglichte der Verordnungsgeber eine Korrektur der vertraglich vereinbarten oder in §§ 553 ff. BGB geregelten Möglichkeiten zur außerordentlichen Kündigung eines Mietvertrages. Diese Regelung weist deutliche Parallelen zur COVID-19-Regelung des Jahres 2020 auf, die allerdings auf die Einschaltung eines Gerichts verzichtet.

Durch § 1 der Bekanntmachung zum Schutz der Mieter vom 26. Juli 19179RGBl. 1917, S. 659. (Erste Mieterschutzverordnung) erhielten die vielfach bereits zuvor von den Gemeinden als Schiedsstellen errichteten Mieteinigungsämter die Kompetenz zum Eingriff in Mietverhältnisse; an die Stelle des »starren Rechts« trat infolgedessen der »Grundsatz sozialer Billigkeit«10Max Unger et al., Mieterschutz und Wohnungsmangel : Kommentar zu den Reichsgesetzen unter Berücksichtigung der wichtigsten landesrechtlichen Vorschriften , Berlin 1921, Vorbemerkung zum Ersten Mieterschutzgesetz.. Die Anwendung der Verordnung konnte nicht vertraglich abbedungen werden, § 9. Auf Verlangen des Mieters konnten die Einigungsämter über die Wirksamkeit einer nach dem 1. Juni 1917 erfolgten Kündigung des Vermieters, die Fortsetzung des gekündigten Mietverhältnisses und seine Dauer sowie über die Erhöhung des Mietzinses im Falle der Fortsetzung entscheiden. Auf Verlangen des Vermieters konnten sie erforderlichenfalls einen mit einem neuen Mieter geschlossenen Mietvertrag, dessen Erfüllung durch eine Entscheidung zugunsten des bisherigen Mieters unmöglich geworden war, rückwirkend aufheben. Einziges Entscheidungskriterium des Einigungsamtes war das billige Ermessen, § 7 Abs. 1 Satz 1, wobei allerdings im Falle der Fortsetzung des Mietverhältnisses grundsätzlich die Bestimmungen des Mietvertrages galten. Weitere Richtlinien existierten für die Entscheidungstätigkeit des Amtes nicht.

Verbliebene Lücken wurden durch die Bekanntmachung zum Schutz der Mieter vom 23. September 191811RGBl. 1918,S. 1140. (Zweite Mieterschutzverordnung) geschlossen. Nach § 2 konnte das Einigungsamt auf Anrufen des Mieters über die Wirksamkeit einer Kündigung des Vermieters und die Fortsetzung des gekündigten Mietverhältnisses jeweils bis zur Dauer eines Jahres entscheiden und überdies ein ohne Kündigung auslaufendes Mietverhältnis jeweils bis zur Dauer eines Jahres verlängern. Außerdem konnte das Einigungsamt die Erlaubnis des Vermieters zur Untervermietung ersetzen, § 4. Noch weitergehende Befugnisse erhielten die Einigungsämter in Gebieten mit besonders starkem Wohnungsmangel, §§ 5 und 6: Hier konnten Kündigungen nur mit Zustimmung des Einigungsamtes wirksam erklärt werden, § 6 Abs. 1 Ziff. 1, und es galten Zeitmietverträge auf unbestimmte Zeit verlängert, wenn der »Vermieter nicht vorher die Zustimmung des Einigungsamtes zu dem Ablauf erwirkt hat«, § 6 Abs. 1 Ziff. 2. Die Ämter konnten also nicht nur die Gestaltungswirkung einer Kündigung nachträglich beseitigen, sondern bereits der Eintritt der Gestaltungswirkung konnte überhaupt nicht mehr allein durch wirksame Willenserklärung des Vermieters erreicht werden. Hinzu kam die Bekanntmachung über Maßnahmen gegen Wohnungsmangel vom selben Tag12RGBl. 1918, S. 1143. , die regulierend in den Wohnungsmarkt eingriff, indem sie ermöglichte, Gebäudeabbrüche oder Zweckentfremdung von Wohnraum zu untersagen und leerstehende Wohnungen zwangsweise zu vermieten. Diese Regelungen zeigen, wie eine Regulierung der Wohnraummiete in schweren und andauernden Krisen aussehen kann.

III. Keine Rückkehr zum Bürgerlichen Gesetzbuch

Mit dem Krieg endete nicht auch die Krise des Deutschen Reiches, im Gegenteil: Sie verschärfte sich bis in die Mitte der 1920er Jahre auf allen Ebenen und mit ihr – dies sogar zeitlich verschoben, weil die Bautätigkeit erst langsam wieder an Fahrt aufnahm – die Wohnungsnot. Deshalb blieben die Verordnungen zum Mieterschutz nicht nur in Kraft, sondern wurden auf Grundlage des Gesetzes über die vereinfachte Form der Gesetzgebung für Zwecke der Übergangswirtschaft vom 17. April 191913RGBl. 1919, S. 394. durch die Verordnung zum Schutze der Mieter vom 22. Juni 191914RGBl. 1919, S. 591. (Dritte Mieterschutzverordnung) sogar noch ausgebaut.

Weil man annahm, dass die Regelungen der Dritten Mieterschutzverordnung in die durch die Weimarer Reichsverfassung garantierten Grundrechte eingriffen, wurde die Verordnung von der verfassungsgebenden Nationalversammlung durch das Gesetz über Maßnahmen gegen Wohnungsmangel vom 11. Mai 192015RGBl. 1920 S. 949. in der Weise ergänzt, dass Eingriffe in die Freizügigkeit, die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Eigentum ausdrücklich für zulässig erklärt wurden; gleichzeitig wurde das Verordnungsrecht damit nun auf eine parlamentsgesetzliche Grundlage gestellt.

In den Jahren 1922/23 ergingen weitere Gesetze zum Mieterschutz. Spätestens seit dieser Zeit wird rückblickend deutlich, dass eine Verstetigung dieser Materie eingetreten war; die meisten Zeitgenossen verstanden demgegenüber das Mieterschutzrecht weiterhin als Notrecht mit zeitlich beschränkter Geltung. Das Mieterschutzgesetz vom 1. Juni 192316RGBl. I 1923, S. 353. gewährte Mietern Schutz vor willkürlicher Kündigung, ersetzte jedoch das Verfahren vor dem Einigungsamt durch eine Aufhebungsklage des Vermieters – dieser (wohl aber der Mieter) konnte also nicht mehr wirksam kündigen! – vor dem Amtsgericht; er und nicht der gekündigte Mieter musste also im Streitfall den Weg zu Gericht suchen. Das Amtsgericht entschied als Mietschöffengericht.17§ 7 Abs. 1 Satz 1 MSchG 1923 regelte: »Über die Aufhebungsklage entscheidet das Amtsgericht unter Zuziehung von Beisitzern.« Und Abs. 2 Satz 1: »Die Beisitzer müssen zur Hälfte Vermieter aus dem Kreise der Hausbesitzer, zur Hälfte Mieter sein.« Die Abschaffung der Mietschöffen (»Die Amtsgerichte und Mieteinigungsämter entscheiden ohne Beisitzer«) durch die 4. Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens vom 8. Dezember 1931, RGBl. I S. 699, hier II. Teil IV. Kapitel Art. II Ziff. 1. Die Entscheidung der Einigungsämter nach billigem Ermessen hatte zu erheblicher Rechtsunsicherheit geführt, weshalb die Aufhebungsklage lediglich bei Vorliegen bestimmter (aus der Tätigkeit der Einigungsämter abgeleiteter) Tatbestände zu einem das Mietverhältnis aufhebenden Gestaltungsurteil führte. § 4 MieterschutzG verankerte erstmals gesetzlich den Eigenbedarf des Vermieters als Beendigungsgrund: Er konnte erfolgreich auf Aufhebung klagen, wenn für ihn aus besonderen Gründen ein so dringendes Interesse an der Erlangung des Mietraumes bestand, dass auch bei Berücksichtigung der Verhältnisse des Mieters die Vorenthaltung eine schwere Unbilligkeit für den Vermieter darstellen würde.

Erst nach und nach setzte sich die Auffassung durch, dass man auch nach Beendigung der krisenbedingten Zwangswirtschaft nicht ohne weiteres zum Modell des Bürgerlichen Gesetzbuchs zurückkehren könne. Die Gutachter des 33. Deutschen Juristentages kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass eine Beseitigung des Sonderrechts erst möglich sein werde, wenn »durch genügenden Neubau ein Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt herbeigeführt ist«.18Rudolf Ruth, Gutachten, und Heinrich Klang, Gutachten, in: Schriftführeramt der ständigen Deputation (Hrsg.), Verhandlungen des 33. Deutschen Juristentages, Heidelberg 1924, S. 165 und 168. In den Notverordnungen19Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 1. Dezember 1930 findet sich in RGBl. I 1930, S. 517. am Ende der Weimarer Zeit wurde die Geltung des Reichsmietensgesetzes und des Mieterschutzgesetzes nun nicht mehr befristet, sondern auflösend auf das Inkrafttreten eines neuen BGB-Mietrechts bedingt. Das Krisenrecht war spätestens jetzt ersichtlich zu einem in die Zivilrechtskodifikation aufzunehmenden Dauerrecht geworden, ersetzte es für Wohnraummietverträge doch die Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs über Dauer, Inhalt und Beendigung von Mietverträgen und wurde doch aus diesen Äußerungen auch deutlich, dass eine Rückkehr zu den Regelungen des BGB 1900 auch in konservativen Kreisen nicht mehr in Betracht gezogen wurde. Übrigens auch nicht im Nationalsozialismus, als »sozial« im Mietrecht nicht mehr die Moderation des Interessengegensatzes zwischen zwei Rechtssubjekten bedeutete, sondern Behauptung der Aufhebung des Interessengegensatzes zwischen Vermieter und Mieter im Lichte der Volksgemeinschaftsideologie, von der aus (und nicht vom Individuum aus) und in deren Dienst alles Recht zu denken war.

Die in den Notverordnungen der Weimarer Zeit genannte Bedingung ist erst in den Jahren 1960 bzw. 1974 eingetreten. Die Debatte um die Aufnahme eines separaten Wohnraummietrechts in das Bürgerliche Gesetzbuch war, wie Werner Schubert20Werner Schubert, Die Diskussion über die Schaffung eines sozialen Dauermietrechts am Ende der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 106, 1989, S. 143-188, hier S. 145. zeigt, inhaltlich dem Weimarer Reformdiskurs verpflichtet. Heute sind die Regelungen etwa zum mietrechtlichen Kündigungsschutz für uns selbstverständlich. Es ist nicht Intention dieses Beitrags, den Gehalt dieser Regelungen zu kritisieren, sondern den Prozess einer Verstetigung von als vorübergehend gedachten Rechtsnormen beispielhaft darzustellen.

IV. Zivilrechtswissenschaft und Mietrecht

Die Zivilrechtsliteratur21Vgl. hierzu auch Udo Wolter, Mietrechtlicher Bestandsschutz: historische Entwicklung seit 1800 und geltendes Wohnraum- Kündigungsschutzrecht, Frankfurt am Main 1982, S. 152. der Weimarer Zeit hat sich nicht um eine Integration des Mieterschutzrechts in das bürgerliche Recht bemüht. Das zeigt sich bereits an der Systematik der einschlägigen Werke: Zwar erschien eine Flut von Praktikerliteratur, in den gängigen Lehrbüchern und Kommentaren hingegen finden sich in der Regel lediglich kurze Anhänge zum Mieterschutzrecht. Für Oertmann22Paul Oertmann, BGB, Recht der Schuldverhältnisse, Zweite Abteilung §§ 433 bis 853, Berlin 1929, vor § 535 BGB, Anm. III. beispielsweise handelte es sich um fremdartigen Stoff »ohne jeden inneren Zusammenhang«, »ausnahmslos auf rasche Vergänglichkeit« ausgerichtet, der hoffentlich bald verschwindet. Dies war die Antwort aus dem Elfenbeinturm der Katheder-Nationalliberalen auf die Frage nach der systematischen Einordnung des nunmehr vorhandenen »Tropfens sozialistischen Öls«, während ein Kurzkommentar zum Mieterschutzrecht aus der Feder von Praktikern bereits 192023Max Unger et al., Mieterschutz und Wohnungsmangel: Kommentar zu den Reichsgesetzen unter Berücksichtigung der wichtigsten landesrechtlichen Vorschriften, Berlin 1921, Vorwort; anders noch Max Unger, Curt Dittrich, Das Mietrecht im Kriege und in der Übergangszeit: ein Kommentar zu den Verordnungen des Bundesrats, Berlin 1919, Vorwort (November 1918): »Notstandsmaßnahmen […], die nach Wiederkehr normaler Verhältnisse dem Grundsatz der Vertragsfreiheit wieder Platz machen werden.« hellsichtig bemerkte, dass »jetzt nicht mehr von Kriegsmietrecht oder einem nur für Übergangszeiten geltenden Rechtszustand gesprochen werden kann, sondern von einer für die Dauer wichtigen Materie«.

Die Zivilrechtswissenschaft schwieg, obschon der Katalysator des Großen Krieges dafür gesorgt hatte, dass die Vermietung von Wohnraum von einer schlichten Ausübung der Eigentümerbefugnis in Form der Gebrauchsüberlassung an Dritte gegen Bezahlung durch den Eigentümer als »Souverän« zu einer weitgehend staatlich geregelten und dem klassischen Vertragsrecht entzogenen Materie wurde. Das Privatrecht verlässt also auf dem Feld des Wohnraummietrechts seinen individualistischen Standpunkt und gelangt zu Kündigungsverboten und zwingend vorgeschriebenen Vertragsinhalten. Die übergeordnete Frage nach dem Verhältnis von liberalem Zivilrecht und privatrechtsregulierenden Regelungen – und deren Rechtfertigung und Grenzen! – blieb jedoch unbeantwortet. Die Privatrechtslehre der Weimarer Zeit entwickelte keine allgemeine Theorie der fortschreitenden Sozialisierung des Privatrechts, sondern zog sich größtenteils angewidert von diesem fremdartigen Stoff zurück. Sie hat damit eine ihrer vornehmsten Aufgaben verfehlt.

References
1 https://www.bmjv.de/DE/Themen/FokusThemen/Corona/Miete/Corona_Miete_node.html
2 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Band 3, Frankfurt am Main 1995, S.147.
3 Otto von Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Frankfurt am Main 1948, S. 9 f.
4 Otto von Gierke, Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, Leipzig 1889, S. 241 f.
5 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Band 3, Frankfurt am Main 1995, S. 786.
6 RGBl. 1914, S. 327.
7 Bekanntmachung über die gerichtliche Bewilligung von Zahlungsfristen vom 7. August 1914, RGBl. 1914, S. 359, geändert durch die Verordnung über die gerichtliche Bewilligung von Zahlungsfristen vom 21. Mai 1915, RGBl. 1915, S. 290.
8 Bekanntmachung, betreffend Änderung der Verordnungen über die gerichtliche Bewilligung von Zahlungsfristen und über die Folgen der nicht rechtzeitigen Zahlung einer Geldforderung vom 8. Juni 1916, RGBl. 1916, S. 451.
9 RGBl. 1917, S. 659.
10 Max Unger et al., Mieterschutz und Wohnungsmangel : Kommentar zu den Reichsgesetzen unter Berücksichtigung der wichtigsten landesrechtlichen Vorschriften , Berlin 1921, Vorbemerkung zum Ersten Mieterschutzgesetz.
11 RGBl. 1918,S. 1140.
12 RGBl. 1918, S. 1143.
13 RGBl. 1919, S. 394.
14 RGBl. 1919, S. 591.
15 RGBl. 1920 S. 949.
16 RGBl. I 1923, S. 353.
17 § 7 Abs. 1 Satz 1 MSchG 1923 regelte: »Über die Aufhebungsklage entscheidet das Amtsgericht unter Zuziehung von Beisitzern.« Und Abs. 2 Satz 1: »Die Beisitzer müssen zur Hälfte Vermieter aus dem Kreise der Hausbesitzer, zur Hälfte Mieter sein.« Die Abschaffung der Mietschöffen (»Die Amtsgerichte und Mieteinigungsämter entscheiden ohne Beisitzer«) durch die 4. Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens vom 8. Dezember 1931, RGBl. I S. 699, hier II. Teil IV. Kapitel Art. II Ziff. 1.
18 Rudolf Ruth, Gutachten, und Heinrich Klang, Gutachten, in: Schriftführeramt der ständigen Deputation (Hrsg.), Verhandlungen des 33. Deutschen Juristentages, Heidelberg 1924, S. 165 und 168.
19 Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 1. Dezember 1930 findet sich in RGBl. I 1930, S. 517.
20 Werner Schubert, Die Diskussion über die Schaffung eines sozialen Dauermietrechts am Ende der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 106, 1989, S. 143-188, hier S. 145.
21 Vgl. hierzu auch Udo Wolter, Mietrechtlicher Bestandsschutz: historische Entwicklung seit 1800 und geltendes Wohnraum- Kündigungsschutzrecht, Frankfurt am Main 1982, S. 152.
22 Paul Oertmann, BGB, Recht der Schuldverhältnisse, Zweite Abteilung §§ 433 bis 853, Berlin 1929, vor § 535 BGB, Anm. III.
23 Max Unger et al., Mieterschutz und Wohnungsmangel: Kommentar zu den Reichsgesetzen unter Berücksichtigung der wichtigsten landesrechtlichen Vorschriften, Berlin 1921, Vorwort; anders noch Max Unger, Curt Dittrich, Das Mietrecht im Kriege und in der Übergangszeit: ein Kommentar zu den Verordnungen des Bundesrats, Berlin 1919, Vorwort (November 1918): »Notstandsmaßnahmen […], die nach Wiederkehr normaler Verhältnisse dem Grundsatz der Vertragsfreiheit wieder Platz machen werden.«