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Corona-Diskurs

Prof. Dr. Katrin Gierhake, LL.M.

Der Zusammenhang zwischen § 10 EGStPO und den strafrechtlichen Prozessmaximen

Nachdem die Corona-Pandemie Deutschland erreicht hatte und die Politik erste Maßnahmen zur Eindämmung beschlossen hatte, kam schnell auch die Frage auf, wie mit laufenden Strafprozessen umgegangen werden sollte. Richter und Anwälte forderten den Gesetzgeber auf, die Möglichkeit einer Unterbrechung während der Pandemie zu schaffen. Die Legislative reagierte und fasste § 10 EGStPO neu.

Regelungsgehalt von § 10 EGStP

Um die Gesetzesänderung nachzuvollziehen, muss man zunächst § 229 StPO kennen und seinen Hintergrund verstehen. Die Norm an sich ist simpel: Sie regelt die maximale Zeit, die zwischen zwei Verhandlungstagen der Hauptverhandlung liegen darf. In der Regel sind das drei Wochen, bei sehr langen Verfahren sogar ein Monat. § 10 EGStPO hemmt nun diese Fristen, wenn der Prozess wegen der Corona-Pandemie unterbrochen wird. Plötzlich können deshalb zwischen zwei Verhandlungstagen bis zu drei Monate und zehn Tage liegen. Nun sind aber die ursprünglichen Fristen der StPO keine rein willkürlichen Zahlenspiele, sondern das Ergebnis einer umfassenden Abwägung.

Beschleunigungsgrundsatz

Das deutsche Recht kennt viele Verfahrensgrundsätze, die die Grundlage für Strafverfahren bilden. Sie schützen die Grundrechte des Angeklagten. Die Herleitung der Grundsätze ist nicht einfach, denn sie sind nicht ausdrücklich im Grundgesetz erwähnt. Die zentrale Norm bildet das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip. Herausgelesen wird aus dieser Norm u.a. der sogenannte Beschleunigungsgrundsatz. Er besagt, dass Verfahren möglichst zügig und ohne lange Unterbrechungen durchgeführt werden müssen. Das mag trivial erscheinen, ist für die Angeklagten aber tatsächlich ein überaus wichtiges Recht. Denn ein Gerichtsprozess stellt nicht nur eine große psychologische Belastung dar, die einhergeht mit einer sozialen Stigmatisierung, sondern fordert den Angeklagten auch physisch. Wie lange darf der Zeitraum sein, in dem jemand zum regelmäßigen Erscheinen vor Gericht verpflichtet werden darf?

Unmittelbarkeitsgrundsatz

Ein anderer Verfahrensgrundsatz ist das Unmittelbarkeitsprinzip. Das Gericht darf sich bei der Urteilsfindung nur auf all jene Wahrnehmungen stützen, die es während der mündlichen Verhandlung erlangt hat. Deshalb müssen etwa Sachverständigengutachten im Strafverfahren grundsätzlich verlesen werden. Man kann nun die Frage aufwerfen, ob das Unmittelbarkeitsprinzip bei längeren Unterbrechungen noch gewährt wird. Weiß der Richter noch so genau was vor drei Wochen besprochen wurde, dass er sich daraus den Tatbestand erarbeiten kann? Erschwert wird das Problem noch durch die Praxis, in der gerichtliche Protokolle den Prozess nur verkürzt und auf wesentliche Punkte beschränkt wiedergeben. Zeugenaussagen etwa werden nicht wörtlich mitgeschrieben. Ein Richter kann also nicht nachlesen, was im Detail mündlich vorgetragen wurde.

Herleitung der Fristen des § 229 StPO

Auf der anderen Seite muss der Staat aber, um ein faires Verfahren zu gewährleisten, auch dafür sorgen, dass alle beteiligten Personen während des gesamten Verfahrens geistig immer auf voller Höhe sind. Weder Richter noch Anwälte sind Maschinen, die beliebig an- und ausgeschaltet werden können. Deshalb muss diesen Personen die Möglichkeit eingeräumt werden, sich für einige Zeit nicht mit dem Verfahren zu beschäftigen. Eine Urlaubsreise sollte weiterhin möglich sein. Bei Erlass des § 229 StPO mussten die widerstreitenden Interessen in einen Ausgleich gebracht werden. Die Möglichkeit einer Unterbrechung muss gegeben sein.

Der zuvor genannte Zweifel an der Einhaltung des Unmittelbarkeitsgrundsatz können wohl schon mit Argument entkräftigt werden, dass umfassende Verfahren auch ohne längere Unterbrechungen Monate oder Jahre dauern können. In dem Fall wird dem Gericht aber zugemutet sich auch am letzten Verhandlungstag noch an den Beginn der mündlichen Verhandlung erinnern zu können. Dem liegt ein gewisser Pragmatismus zu Grunde. Wenn man zu einem anderen Ergebnis käme, wären kompliziertere Verfahren faktisch nicht möglich und gerade schwere Verbrechen könnten nicht bestraft werden. Natürlich stellt sich dann die Frage, ob das Unmittelbarkeitsprinzip vor diesem Hintergrund nicht grundsätzlich anders interpretiert werden muss.

Auch die Möglichkeit der Aushöhlung des Rechtsstaatsprinzips wegen Missachtung des Beschleunigungsgrundsatz ist bei der geregelten Frist noch nicht annehmbar. Historisch gesehen lag die Höchstdauer einer Unterbrechung bis ins Jahr 2004 grundsätzlich zwar nur bei zehn Tagen. Diese hat sich in der Praxis aber als zu kurz erwiesen, sodass Gerichte die Fristen mit sogenannten Schiebeterminen zu umgehen versuchten. Die aktuelle Regelung macht eine solche Konstruktion nicht nötig, während dem Angeklagten eine solche Wartezeit auch im Hinblick auf seine eigenen Grundrechte noch zugemutet werden kann.

Verschiebung der Verhältnismäßigkeit durch Covid-19

Das durch die Hemmungswirkung des § 10 EGStPO verschobene Fristende lässt sich nicht mehr anhand der zuvor genannten Kriterien in einer Abwägung rechtfertigen. Ein neues Argument, welches jetzt aber hinzutritt, ist der Schutz der allgemeinen Gesundheit. Dadurch verlängert sich die verfassungsrechtlich zumutbare Unterbrechungsfrist.

Bei der Beantwortung der Frage für welchen Zeitraum die Frist aber genau gehemmt werden kann, wäre es ein Fehler in Extreme zu verfallen. Die Gewährleistung von Minderheitenrechten ist entscheidendes Merkmal unserer Demokratie. Trotzdem wiegt das Bedürfnis eine weltweite Pandemie aufzuhalten, oder auch nur zu verlangsamen, schwer genug, dass eine Einschränkung der Grundsätze über den normalen Rahmen hinaus möglich ist. Hingegen ist es falsch den Gesundheitsschutz als Trumpfkarte darzustellen, die alle anderen Rechte in den Schatten stellt.

Insgesamt ist die Fristhemmung in ihrer Länge noch angemessen. Dafür spricht insbesondere, dass die Norm nur in absoluten Ausnahmesituationen greift, nämlich der aktuellen Pandemie. Nach der aktuellen Gesetzeslage haben die Gerichte ansonsten keine Möglichkeit die Gesundheit der physisch anwesenden Personen zu schützen. Warum der Gesetzgeber gerade die Frist von zwei Monaten gewählt hat, enthüllt wohl ein Blick auf § 229 Abs. 3 StPO. Wenn einer der Richter, oder der Angeklagte, tatsächlich krank werden, wird die Frist auch nach der alten Rechtslage bereits in diesem Rahmen gehemmt. Wegen der hohen Infektionsgefahr durch den Virus ist die Gleichsetzung hinsichtlich des Ergebnisses von abstrakter Ansteckungsgefahr und tatsächlicher Erkrankung nachvollziehbar.

Eine Hemmung über zwei Monate hinaus wäre hingegen nur noch schwer zu rechtfertigen. Wie könnte der Gesetzgeber die Angemessenheit einer solchen Regelung erklären, wenn er bei einer tatsächlich eingetretenen Krankheit eine Hemmungswirkung über einen solchen Zeitraum selbst nicht will? Aber auch abgesehen von diesem Argument überwiegen irgendwann die Rechte des Angeklagten, je nachdem für wie schwer die Krankheit und die Infektionsgefahr eingeschätzt werden. Wegen der hohen Belastung durch einen Prozess und der mit der Zeit steigende, immer größer werdende Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit, spricht vieles dafür, ein Ende der maximal möglichen Unterbrechung eher früh anzunehmen. Jede Hemmung, die weit über die jetzige hinausgeht, ist daher nicht verfassungsgemäß.

Wenn sich herausstellt, dass der Gesundheitsschutz trotz der neuen Norm nicht gewährleistet werden kann, dann ist es in der Verantwortung des Gesetzgebers rechtliche Rahmenbedingungen für die Durchführung einer Hauptverhandlung ohne Ansteckungsrisiko zu schaffen. Etwa durch den Einsatz von Videotechnologie.